Kurs Minosmond
Kramer war sicher gewesen, daß Pauline ihre Aufgabe bewältigen würde, aber als er nun erlebte, was sie tatsächlich geleistet hatte, erkannte er, daß selbst er mit seinen Erfahrungen auf organisatorischem Gebiet das Ausmaß der Arbeit unterschätzt hatte und daß er Pauline damit nicht hätte allein lassen dürfen und daß sie es trotzdem geschafft hatte, der Himmel mochte wissen, wie.
Das Holokino war gebaut wie ein kleines Fußballstadion oder wie ein Zirkus – ringsherum Plätze und in der Mitte eine freie Fläche. Das Ganze war ein Saal mit viertausend Sitzplätzen, auch Kongresse wurden hier manchmal abgehalten und eine besondere Art Theater aufgeführt, das auf das Guckkastenprinzip der Bühne verzichtete. Heute saßen etwas mehr als dreitausend Menschen im Saal, die Teilnehmer des Langzeitexperiments ATTACKE und ihre Betreuer, zweihundert Studenten, also einer für je fünfzehn Teilnehmer. In der Mitte aber, auf der freien Fläche, stand Pauline mit einem älteren Mann, das mußte wohl der leitende Mediziner sein, Wenzel kannte ihn nicht, er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Pauline kurz zu begrüßen und dann in der Menge Platz zu nehmen.
Irgend etwas war sonderbar an dieser Menschenmenge, und Wenzel rätselte eine ganze Weile herum, bis er auf den einfachen Grund kam, der den Eindruck der Seltsamkeit hervorrief: Die Leute waren alle fast gleichaltrig, ausgenommen natürlich die Studenten. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er selbst ja auch in diese Menge paßte, wenigstens, was das Alter betraf, denn sonst… War er unglücklich gewesen über längere Zeit? Nein. Stand ihm ein besonderes Glück bevor? Kaum, wenn man erfolgreiche Entdeckungen, auf die er hoffte, nicht als Glück bezeichnen wollte. Nein, was er Glück nennen würde, das fand wohl vorerst nicht statt; er dachte an den Abschied von Sibylle Mohr. Also war er wenigstens auch kein Kandidat für dieses medizinische Experiment.
Jetzt schaltete Pauline, die sich noch mit dem Mediziner unterhalten hatte, das Mikrofon ein und hob den Arm. Das leise Gesumm, das in der Halle schwebte, verklang.
„Es geht jetzt gleich los“, sagte Pauline, offensichtlich bemüht um einen lockeren Ton, „aber wie immer muß vorher noch einer reden. Ich möchte mich noch mal bedanken bei Ihnen für Ihre Teilnahme, ohne alle Feierlichkeit, aber im vollen Bewußtsein der Bedeutung. Wir wollen gemeinsam einer Gefahr beikommen, die den Menschen droht. Sicherlich nur einigen von zehn Milliarden Menschen, aber das reicht ja. Jeder von Ihnen wird somit gewiß ein Lebensretter, und wenn die Auswertung zu entsprechenden Schlußfolgerungen führt, was wir alle hoffen, dann werden Sie auch erfahren, wem Sie als erstem das Leben gerettet haben.
Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Ihr eigenes Leben in Gefahr ist. Statistisch sind die Fälle viel seltener, als daß wir damit rechnen können, unter dreitausend Menschen innerhalb eines Jahres einen solchen Fall zu haben. Wenn aber doch, dann wird Ihr Leben gewiß gerettet, denn die Ärzte werden Sie innerhalb von Minuten erreichen.
Die Mediziner hoffen aber, daß wenigstens ein oder zwei Fälle auftreten, die Sie selbst wahrscheinlich nur als momentanes Unwohlsein registrieren würden. EEG und EKG dieses kurzen Zustands jedoch werden ihnen sagen, worum es sich überhaupt handelt und wie weitere Forschungen angelegt werden müssen.
Ich möchte nun wiederholen, wozu Sie sich bereit erklärt haben. Sie legen jeden Morgen den Reifen um den Kopf und das Armband um das rechte Handgelenk und nehmen sie erst beim Schlafengehen wieder ab. Sie können damit baden, in der Sonne liegen oder in der Sauna; was Sie wollen, nur nicht gerade mit einem Hammer draufhauen. Sie werden in diesem einen Jahr ab heute – dafür bedanken wir uns besonders – wegen der Funkreichweite der Geräte Ihren Stadtbezirk nicht verlassen. Gibt es zwingende Gründe, daß Sie eine dieser Vereinbarungen nicht einhalten können, wenden Sie sich an Ihren Betreuer – wir treffen dann Sonderregelungen. Sollten Sie aus irgendeinem Grund in ärztliche Behandlung gehen, teilen Sie dem Arzt als erstes mit, daß Sie Teilnehmer dieses Experiments sind.
Genug geredet. Sie sehen jetzt hier gleich ein Stereotelebild unserer Zentrale, die die Sendungen Ihrer Reifen und Armbänder entgegennimmt und auswertet.“
In der Mitte der Arena erschien das Hologramm eines Computerpultes in starker Vergrößerung. Eigentlich gab es hier nichts zu sehen, und es würde
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