Kurschattenerbe
Kateryna hatte von einem Fahrradverbot für Sascha nichts wissen wollen. Sie weigerte sich schlichtweg, auf Tony zu hören. Ihre Tochter solle in Freiheit aufwachsen, Punktum.
Entgegen besseren Wissens hatte Tony Saschas Leibwächter mit Fahrrädern ausgestattet. Er wusste, dass die beiden in dieser Disziplin die reinsten Tölpel waren. Sie bevorzugten es, Kanu zu fahren, und trainierten in jeder freien Minute, um am kommenden Wochenende beim Wildwasserrennen in der Gilfklamm anzutreten. Auf Fahrrädern war ihre Geschicklichkeit äußerst begrenzt. Sascha würde Victor und Juri im Nu abgehängt haben, das war ihm klar.
Tony schwang sich wieder auf sein Mountainbike und radelte weiter. Der letzte Streckenabschnitt seiner Tour führte schnurgerade und stetig bergan nach Dorf Tirol. Wieder schweiften seine Gedanken zu Sascha. Sie war ihm zunächst reserviert begegnet. Seit er Kateryna einen Heiratsantrag gemacht hatte, ließ das Mädchen keine Gelegenheit aus, ihm das Leben schwer zu machen – besser gesagt, ihrer Mutter. Ihn ignorierte Sascha so gut es ging. Kateryna dagegen hatte sie gedroht, zu ihrem Vater zu gehen, falls sie Tonys Antrag annehmen sollte. Dass ihr Vater eine neue Frau an seiner Seite hatte, schien Sascha nicht zu stören. Ihr ging es nur darum, die Heirat ihrer Mutter zu verhindern.
Eines wusste er mit Sicherheit: Kateryna würde nie zulassen, dass Sascha zu ihrem Vater zog. Sie würde lieber auf ihn verzichten. Das hatte sie ihm in letzter Zeit häufiger klargemacht.
Sascha hier, Sascha da. So ging es die ganze Zeit. Auch heute hatte er wieder das Nachsehen gehabt. Nach der Pressekonferenz und dem Mittagessen hatte er sich auf ein Schäferstündchen mit Kateryna gefreut. So war es abgemacht gewesen. Doch sie hatte ihn versetzt. Sie wolle mit Sascha shoppen gehen.
Shoppen mit Sascha, dass er nicht lachte. Das Einzige, wofür das Mädchen sich interessierte, war ihr Rad – und wie sie es anstellte, einen Keil zwischen Kateryna und ihn zu treiben.
Inzwischen bezweifelte Tony, dass es eine gute Idee gewesen war, seine Produktionsfirma in Hollywood aufzugeben. Er hatte seine Anteile an seinen Partner verkauft und das Geld angelegt. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte hatte seine Reserven schmelzen lassen. Und in Hollywood war er weg vom Fenster. Da müsste er von vorn anfangen. Was ihm heute mit 38 wesentlich schwerer fiele als vor zehn Jahren beim Start seiner Karriere im Filmgeschäft.
Nüchtern betrachtet musste er sich eingestehen, dass er vollkommen von Kateryna abhängig war. Und das gefiel ihm gar nicht. Hinzu kam, dass eine andere Sache schiefgegangen war. Sein Kontaktmann vor Ort hatte versprochen, sich darum zu kümmern. Doch gerade eben hatte er ihn erneut vertröstet.
Links und rechts der Hauptstraße wurden die ersten Hotels sichtbar. Bald hatte Tony den Ortskern erreicht. Von da war es mit dem Fahrrad ein Katzensprung zur Burg. Im Gegensatz zu einem Auto brauchte er für das Fahrrad keine Sondergenehmigung, um zum Schloss zu fahren.
An der Aussichtsterrasse zu Beginn des Schlossweges brachte Tony sein Gefährt zum Stehen. Das Panorama war hier sehenswert. Vor ihm lag auf einem Moränenfelsen die Burg, dahinter ragten die Mutspitze und weitere Gipfel der Texelgruppe in den Himmel. Links unter ihm breitete sich das Meraner Becken aus, umrahmt von Berghängen.
Tony holte die Kamera aus seinem Rucksack und machte ein paar Aufnahmen. Vielleicht würde er ja doch wieder ins Filmgeschäft einsteigen. Es konnte nicht schaden, wenn er ein paar Motive im Auge behielt. Für einen Bergfilm – seine Spezialität – schien ihm die Gegend hier gut geeignet. Nicht jeder Film musste in den Dolomiten spielen, Südtirol hatte eine Menge schöner Plätze zu bieten.
Nachdem er die Bilder geschossen hatte, verstaute er die Kamera wieder im Rucksack. Tony schwang sich auf den Sattel und rollte den abschüssigen Weg hinunter.
*
Lenz Hofer stand an der Passerpromenade und betrachtete die Fassaden des Meraner Kurhauses. Die verschiedenartigen Trakte des langgestreckten, weißgetünchten Baus bildeten die architektonischen Meilensteine von Merans Aufstieg zur Kurstadt.
Der ›Kleine Kursaal‹, der heutige ›Pavillon des Fleurs‹ war in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts errichtet worden. Lenz glaubte, gelesen zu haben, dass bei der feierlichen Eröffnung 102 Gasflammen gebrannt hatten. Elektrisches Licht gab es nicht. Trotz dieses Mankos gelang es den Betreibern, für die Zerstreuung
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