Kurschattenerbe
Der Tag hatte sonnig begonnen und war nun warm geworden, sodass sie die Kostümjacke nicht würde benötigen. Besser, sie entledigte sich gleich des überflüssigen Kleidungsstücks.
Jenny ging in ihr Zimmer zurück und betrachtete sich im Spiegel. Sie war mit ihrem Outfit zufrieden. Die ärmellose weiße Bluse und der knielange Rock in zartem Pastellrosa harmonierten perfekt mit den flachen Schuhen, die ebenfalls in einem hellen Ton gehalten waren.
Vom nahen St.-Georgs-Kirchlein hörte Jenny die Turmuhr zweimal schlagen. Es war halb eins. Wenn sie sich beeilte, kam sie rechtzeitig zur Hauptspeise. Sie würde mit Kateryna und Lenz die Pressekonferenz Revue passieren lassen. In der Regel schätzten ihre Kunden eine solche Nachbesprechung. Manöverkritik nannte man das.
Ob auch Maurice Wert auf ihre Meinung legte? Sie wusste nicht, wie sie ihn einschätzen sollte. Auf der einen Seite behandelte er sie korrekt und zuvorkommend. Auf der anderen Seite hatte sie den Eindruck, er ließe sich nicht gern in die Karten sehen – zumindest, was sein Auftreten in der Öffentlichkeit betraf. Er war gestern nicht zu der Besprechung für die Pressekonferenz gekommen. Heute hatte er Beppo Pircher, dem Reporter des Meraner, ein Interview gegeben. Da hätte er sie vorher informieren müssen. Sie war schließlich die PR-Verantwortliche des Symposiums. Da konnte nicht jeder einfach über ihren Kopf hinweg Interviews geben. Bei der ganzen Aufregung über Arthurs Fernbleiben hatte sie allerdings keine Gelegenheit gehabt, Maurice darauf anzusprechen.
Arthur! Den hätte sie beinahe vergessen. Sie hatte keine neue Nachricht von ihm. Was hatte ihn so plötzlich fortgeführt? Er hätte wenigstens schreiben können, wohin er unterwegs war. Ausgecheckt hatte er offenbar nicht, sonst hätte die Rezeptionistin das Kuvert nicht in sein Postfach gelegt. Demnach hatte er sein Zimmer behalten. Vielleicht war er inzwischen zurückgekehrt, während sie hier saß und grübelte. Nein, das war nicht möglich. Er hätte ihre Nachricht erhalten und sich gemeldet. Denkbar wäre jedoch auch, dass er früher zurückgekommen war, sein Handy ausgestellt hatte und sich wegen der Strapazen seines Aufbruchs ausschlief. Die unaufmerksame Angestellte hatte ihn natürlich nicht kommen sehen. Wo käme sie denn da hin …
Jenny näherte sich der Tür von Zimmer 14. Sie hätte nicht sagen können, was sie hierhergeführt hatte. Sie war von ihrem Zimmer im zweiten Stock die Treppe heruntergegangen. In der ersten Etage blieb sie stehen und schaute den Gang entlang. Eines der Zimmer musste das von Arthur sein. Ob sie einfach anklopfen sollte?
Sie stand unmittelbar davor, als ihr der Reinigungswagen auffiel. Er war mit frischen Handtüchern und Schmutzwäsche beladen. Die Tür zur Nummer 14 stand offen.
*
»Wie stehen die Aktien?« Tony Perathoner hielt sich das Smartphone ans Ohr und lauschte seinem Gesprächspartner. Was er hörte, gefiel ihm gar nicht. Ohne sich zu verabschieden, beendete er das Gespräch. Er verstaute das Gerät in seinem Rucksack und schulterte ihn.
Bevor er weiterfuhr, blickte er auf die Strecke zurück, die er mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte. Tief unter ihm bahnte sich die Passer ihren Weg durch die enge Gilfklamm. Ein Stück weiter flussabwärts hatte er den Steinernen Steg überquert. Die Brücke verband die schattige Sommerpromenade mit der sonnenbeschienen Winterpromenade und war Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Von dort war er den Serpentinenweg hinaufgeradelt und befand sich nun oberhalb des mächtigen Zenobergfelsens, der neben dem Fluss aufragte.
Tony hatte keine Mühe gehabt, die Route, die vielen Radfahrern schwer zu schaffen machte, zu bewältigen. In seiner Jugend war er Extremkletterer gewesen. Nach wie vor körperlich topfit bewältigte er den Höhenunterschied geschmeidig und souverän wie eine Gams.
Trotzdem fühlte er plötzlich, wie ihm der Schweiß ausbrach. Das Telefonat war nicht nach seiner Vorstellung verlaufen und eine andere Sache ging ihm an die Substanz: das Verhalten von Katerynas Tochter Sascha. Allein wie sie mit Victor und Juri umsprang. Er hatte auf Bitten Katerynas den beiden Bodyguards Fahrräder besorgt, damit sie das Mädchen besser im Auge behalten konnten. Ihm wäre es viel lieber gewesen, sie hätte der Kleinen erst gar nicht erlaubt, hier mit dem Rad durch die Gegend zu fahren. Die Tochter einer Millionärin war damit leichte Beute und als Entführungsopfer geradezu prädestiniert.
Doch
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