Kurschattenerbe
reckten.
»Psst.« Jenny legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Schrei nicht so. Die Zimmerfrau hat mir verraten, dass Arthur die Nacht nicht in seinem Bett verbracht hat. Es war unberührt. Deshalb glaubt sie, er habe bei einer anderen Frau geschlafen. Das hat er natürlich nicht.«
»Hat er nicht?«
»Nein, hat er nicht.« Jenny schien sich ihrer Sache sicher zu sein, denn ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. Lenz konnte sich nicht erklären, woher sie die Gewissheit nahm. Arthur war zwar seines Wissens kein Hallodri, aber schließlich auch nur ein Mann … Viel wichtiger schien ihm jedoch die Frage, was Jenny überhaupt im Zimmer des Professors zu suchen gehabt hatte.
Jenny kramte in ihrer Handtasche und entnahm ihr einen Karton. Den knallte sie auf den Tisch. »Das hier habe ich bei Arthur gefunden.«
Lenz betrachtete die orange-weiße Packung mit der Aufschrift ›Rezept- und apothekenpflichtig‹. Das war eindeutig ein Medikament. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Ehe er seine Frage stellen konnte, antwortete Jenny: »Arthur ist etwas zugestoßen. Wahrscheinlich wurde er entführt.«
Lenz hielt im Kauen inne. Waren Jenny die Nerven durchgegangen? Mit so etwas scherzte man nicht. »Wie kommst du darauf?«, fragte er sie.
Jenny öffnete die Medikamentenschachtel und entnahm ihr den Beipackzettel. »Zur Behandlung von Atemnot. Dreimal täglich eine Tablette mit Wasser einnehmen. Dosierung genau einhalten«, las sie vor. Sie drehte das Blatt auf den Kopf und hielt es Lenz hin. »Bitte schön. Überzeug dich selbst. Hätte Arthur Meran freiwillig verlassen, er hätte sein Medikament mitgenommen.«
Lenz studierte den Text: »Hat er vielleicht vergessen, das Medikament mitzunehmen. Wird er sich vielleicht unterwegs ein neues besorgen. Ist er vielleicht ohnehin bis heute Abend zurück.«
Jenny schüttelte den Kopf. Sie wirkte sehr besorgt. »Nein, Lenz, das glaube ich nicht. Bedenke, was die Zimmerfrau mir gesagt hat: Arthur hat die Nacht nicht in seinem Zimmer verbracht. In der Früh hat er mir eine SMS geschrieben, dass er wegmüsse. Da passt etwas nicht zusammen.«
Lenz lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte in die Ferne. »Wenn du glaubst, dass Arthur etwas passiert ist, musst du zur Polizei gehen.«
Ehe Jenny antworten konnte, trat eine hochgewachsene Frau zu ihnen an den Tisch. »Lenz, ich suche dich die ganze Zeit. Stell dir vor, meine Vielle wurde gestohlen.«
Viola blickte auf ihn herab. Lenz wusste bereits, dass die Geige verschwunden war. So etwas sprach sich schnell herum. Was konnte er da tun?
»Ich muss dich unbedingt unter vier Augen sprechen«, fuhr Viola fort und warf dabei einen Seitenblick auf Jenny, die sich kerzengerade in ihrem Sessel aufrichtete. »Ich habe gerade eine Besprechung mit Herrn Hofer, das sehen Sie doch.«
Lenz beeilte sich, Jenny zuzustimmen. »Richtig. Ich meld mich bei dir, wenn wir fertig sind.«
Viola spitzte die Lippen und legte ihre Hand auf Lenz’ Schulter. »Ich nehm dich beim Wort. Nicht, dass du mich wieder im Stich lässt wie gestern Abend.« Ohne Jenny eines Blickes zu würdigen verließ sie die Terrasse.
Lenz sah zu Jenny. Violas vertrauliche Geste war ihm peinlich. Er hoffte bloß, dass Jenny daraus keine falschen Schlüsse zog.
Sie schien jedoch fest entschlossen, mit der Beweisaufnahme fortzufahren.
»Die habe ich ebenfalls bei Arthur gefunden.« Mit diesen Worten knallte sie eine Zeitung auf den Tisch.
Lenz sah sich das Exemplar an. Es handelte sich um eine Ausgabe des ›Meraner‹. Das Datum lautete auf 30. Mai. »Die Zeitung von gestern?«
Jenny schlug das Blatt auf.
SECHS
Beppo Pircher legte letzte Hand an seinen Bericht über die Pressekonferenz. Die Rezension des gestrigen Konzerts hatte er bereits geschrieben. Auch das Interview mit Maurice Jungmann war im Kasten. Es fehlten die passenden Überschriften. Die machte er immer zuletzt.
Er überflog die Rezension. Im Laufe der Jahre, die er für den ›Meraner‹ arbeitete, war er so vielseitig geworden, dass er praktisch in jedem Ressort eingesetzt werden konnte. Mit 19 Jahren war er aus Gröden, wo er eine Fotografenlehre absolviert hatte, nach Meran gekommen. Das Zeitungsmachen interessierte ihn, daher hatte er sich auf eine Stellenanzeige hin als Fotoreporter beim ›Meraner‹ beworben. Der Chefredakteur gab dem eifrigen jungen Mann eine Chance, erkannte bald dessen Schreibtalent und machte es sich zunutze. Beide Fähigkeiten waren für eine Lokalzeitung mit
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