Kurschattenerbe
begrenzten Ressourcen von unschätzbarem Wert. Daher hatte Beppo den Auftrag erhalten, das ›Gesamtpaket Oswald von Wolkenstein zu covern‹, wie es sein Chefredakteur, der gerne den Slang großer Blattmacher kopierte, ausgedrückt hatte.
Für Beppo bedeutete das: Großeinsatz. Nach dem gestrigen Eröffnungskonzert auf der Burg würde er über die Auftritte weiterer Ensembles, die heute und in den nächsten Tagen an verschiedenen Spielstätten in Meran stattfanden, berichten. Die Pressekonferenz von heute Vormittag und der abschließende Musikwettbewerb am Freitagabend gehörten ebenfalls mit zum ›Paket‹. Das Interview, das Beppo mit Maurice Jungmann geführt hatte, war eine Draufgabe gewesen, die der Chefredakteur goutierte. »Ein bekannter Autor. Da werden wir vielleicht sogar in der überregionalen Presse zitiert«, hatte er gemeint.
Beppo kümmerten solche Überlegungen, bei denen es um das Prestige ging, nicht. Er bevorzugte es, den Dingen auf den Grund zu gehen und darüber zu berichten. Das war seine Leidenschaft und beim ›Meraner‹ konnte er ihr nahezu uneingeschränkt nachgehen. Längst war man auch beim Tagblatt der Südtiroler auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihm ein Angebot gemacht, doch Beppo hatte abgewunken. Dort hätte man ihm die Fesseln des Redaktionsalltages angelegt und ihn auf ein Ressort beschränkt. Beim ›Meraner‹ hatte er dagegen jede Freiheit.
Beinahe jedenfalls. Auch hier galt es, den Redaktionsschluss einzuhalten – und der rückte momentan immer näher.
›Freudenklänge in wilder Aufholjagd‹, hämmerte er in die Tasten. Ihm konnte man nichts vormachen. Er hatte die Probleme, mit denen die Musiker gestern gekämpft hatten, bemerkt. Besonders die Geige – beziehungsweise die Vielle, wie er fachkundig in der Besprechung geschrieben hatte – hatte nicht das richtige Tempo gefunden. Einmal schien sie den anderen Instrumenten hinterherzuhinken. Dann wieder eilte sie mit einer Geschwindigkeit voraus, der die anderen nur mit Mühe folgen konnten.
Beppo hatte sich darüber gewundert, galten doch die ›Freudenklänge‹ als Favorit für den Wettbewerb. Das sollte ihn nicht daran hindern, in der Zeitung seine Meinung kundzutun. Es war schließlich sein Job. Wenn sie ihre Schwierigkeiten nicht in den Griff bekamen, hatten sie ohnehin keine Chance, den Wettbewerb zu gewinnen.
»Beppo, bischt scho fertig?« Konrad Mair, der Chef vom Dienst, hatte gerade seinen Kopf in Beppos winziges Büro gesteckt.
»Gib mir fünf Minuten«, antwortete er. Rasch tippte er: ›Geldregen von der Schwarzmeerküste: Kateryna Maximowa, die gute Fee des Oswald-Symposiums‹.
Die Headline für das Interview kam als Nächstes dran. ›Maurice Jungmanns nächstes Werk – eine Sensation?‹, titelte Beppo.
Geschafft! Er warf einen letzten Blick auf das Layout. Wider Erwarten hatte ihm der Chefredakteur eine ganze Seite freigehalten. Sogar das Gruppenbild, das Beppo gestern beim Konzert geschossen hatte, fand Platz. Der Chef vom Dienst würde die Seite abschließend prüfen, danach ging sie in Druck.
Beppo stieß sich mit dem Drehsessel von seinem Schreibtisch ab, streckte sich und gähnte. Er sprang auf, schnappte Handy und Fotokamera und verließ die Redaktion.
*
Die Landesfürstliche Burg, die sich unweit der Meraner Altstadt in der Galileistraße befand, machte so gar nicht den Eindruck einer hochherrschaftlichen Residenz. Hinter Efeu und Bäumen versteckt wirkte sie eher wie ein romantisches Schlösschen. Das war sie in Wirklichkeit auch. Der Tiroler Landesfürst Sigmund hatte sie um 1460 als Lustschloss erbauen lassen und darin – so die Legende – einige seiner angeblich 50 illegitimen Kinder gezeugt.
Jenny, die mit Lenz auf einer Bank vor dem Gebäude saß, ahnte nichts von diesen Ausschweifungen. Ihre ganze Aufmerksamkeit war der Zeitung gewidmet, die aufgeschlagen zwischen ihnen lag. Es handelte sich um die – nunmehr vollständige – Ausgabe des ›Meraner‹ vom Vortag.
»Das muss der Artikel sein.« Mit dem Zeigefinger wies sie auf den Bericht, der ganz oben auf der Seite stand. Um zu vergleichen, nahm sie das Exemplar aus ihrer Handtasche, das sie Lenz vorhin im Café gezeigt hatte.
Die Zeitung war ihr heute Mittag in die Hände gefallen, nachdem sie Arthurs Zimmer verlassen hatte. Im Gang hatte sie beobachtet, wie die Zimmerfrau die Zeitung auf den Reinigungswagen gelegt hatte. Sie hatte nicht lange gezögert und sich das Exemplar geschnappt – warum, hätte
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