Kurschattenerbe
Burg.
Plötzlich vernahm er Tobias. »Sie können gehen. Viola fährt mit uns im Wagen«, sagte er bestimmt.
Lenz hatte sich der Menge angeschlossen, die sich auf dem mit Fackeln gesäumten Weg in Richtung Dorf bewegt hatte. Er hatte Ausschau nach Arthur gehalten, hatte ihn jedoch nirgends entdecken können. Der Professor hatte wohl einen der Shuttlebusse genommen.
Ganz in Gedanken an den gestrigen Abend betrat Lenz das Kurhaus. Kaum hatte er das prächtige Eingangsfoyer betreten, kam Jenny auf ihn zugeeilt.
»Lenz, Gott sei Dank. Wir müssen uns beeilen. Die Pressekonferenz beginnt gleich.«
Er verstand nicht. Was hatte das mit ihm zu tun? Gut, wenn Jenny es wollte, konnte er sich gerne ins Publikum setzen und zuhören. Der pünktliche Beginn der Veranstaltung hing nicht von seiner Anwesenheit ab.
Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, hielt Jenny ihm ihr Handy unter die Nase und deutete auf die SMS auf dem Display. Lenz rückte seine Brille zurecht und begann zu lesen: ›Musste dringend weg. Lenz soll mich bei der Pressekonferenz vertreten, bitte briefen. Toi, toi, toi, Arthur.‹
Lenz nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Er musste träumen. Gleich würde der Wecker läuten und der Spuk war vorbei. Nein, Maurice Jungmann kam auf ihn zu.
»Herr Hofer, Sie haben die Nachricht von Professor Kammelbach gelesen. Jennifer geht mit Ihnen Ihr Statement durch. Wir sehen uns im Konferenzsaal.«
Lenz konnte kaum glauben, was er gerade gehört hatte. Benommen folgte er Jenny, die ihn an der Hand fasste und mit sich zog.
FÜNF
Jenny betrachtete die junge Frau, die im Dirndl hinter der Rezeption stand. Heute Morgen war sie Jenny hilfsbereit begegnet. Inzwischen schien sie weniger Geduld zu haben. »Horchen Sie, mir ham um die 80 Gäschte im Haus. Da kann ich mir nicht jeden merken, der da vorbeigeht.« Sie schob die Puffärmel ihrer weißen Rüschenbluse, die sie unter dem buntbestickten Mieder trug, nach oben und stemmte die Hände in die dralle Taille. »Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Für die Rezeptionistin war das Gespräch damit beendet. Doch so schnell gab Jenny sich nicht geschlagen. Wenn Arthur heute früh das Hotel verlassen hatte, musste ihn jemand gesehen haben. Vielleicht hatte er ja eine Bemerkung darüber gemacht, wohin er unterwegs war. Das wäre ein Anhaltspunkt.
»Professor Kammelbach hat das Haus gegen 6.30 Uhr verlassen. Um die Zeit werden hier die Gäste wohl nicht in Scharen aus und ein gegangen sein.« Jenny war bewusst zu einem sarkastischen Tonfall übergegangen. Sollte ihr Gegenüber nur sehen, dass sie nicht mit sich spaßen ließ. Allerdings schien sich die Rezeptionistin erst recht über sie zu amüsieren, denn sie lachte laut heraus. »Um die Zeit war ich nicht da. Mein Dienst beginnt erst um acht Uhr.«
Das war die Höhe. Da hatte Jenny ihre Zeit mit dieser unhöflichen Person verschwendet. »Und wer, bitte schön, war da?«
Der Frau war das Lachen vergangen. Pikiert antwortete sie: »Natürlich der Nachtportier.«
Jenny war schleierhaft, was daran natürlich war. Schließlich konnte keiner von ihr verlangen, dass sie die Dienstzeiten des Hotelpersonals kannte. Um es sich mit der Angestellten nicht ganz zu verscherzen, bat sie höflich: »Ich würde den Nachtportier gerne sprechen. Ab wann ist er wieder im Dienst?«
Die Frau im Tiroler Dirndl brach erneut in Lachen aus. »Da miassn S’ warten«, verfiel sie ins Südtirolerische. »Der isch in Spital, sei Frau hat krod a Kind kriagt. Vor näkschter Woche kimmt der nimmer.«
Jenny sank der Mut. Sie wollte zum Lift gehen, da kam ihr eine Idee. Sie wandte sich erneut an die Rezeptionistin und bat um Papier und Kuvert. Nachdem sie ein paar Zeilen geschrieben und das Kuvert zugeklebt hatte, reichte sie es der Rezeptionistin. »Können Sie die Nachricht bitte in das Postfach von Professor Kammelbach geben?« Die Frau bejahte, tippte etwas in ihren Computer ein und steckte das Kuvert in das Fach Nummer 14. Jenny ging – so würdevoll es ihr mit ihrem lädierten Absatz möglich war – zum Lift.
In ihrem Zimmer im zweiten Stock wechselte sie die Schuhe. Anstatt der hochhackigen Peeptoes, die sie heute bei der Pressekonferenz getragen hatte, entschied sie sich für Ballerinas. Zu dem eleganten Kostüm, das sie trug, hätten hohe Absätze besser gepasst. Mit den flachen Schuhen konnte ihr dagegen das Missgeschick von vorhin nicht mehr passieren.
Sie trat hinaus auf die Terrasse.
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