Kurschattenerbe
der Kurgäste zu sorgen. Lesesalon, Billardtische und Raucherzimmer waren nur einige der Vergnügungsangebote, die zur Verfügung standen. Bald wurden die Therapieräume ausgelagert, Unterhaltung pur – vom Konzert bis zum Schönheitswettbewerb – war an der Tagesordnung. Kurze Zeit später wurde Merans erstes Kurhaus zu klein. Der Wiener Architekt Friedrich Ohmann bekam den Auftrag, ein neues zu errichten. Der ›Große Kursaal‹ entstand.
Lenz warf seinen Blick auf die für den Jugendstil typischen Blattgoldverzierungen und richtete seine Augen auf das Vordach der Rotunde, wo Mädchen aus Gips einander die Hände zum Reigen reichten. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass sich die Meraner und die Touristen an diesem Anblick erfreuen konnten. Kaum war der Große Kursaal eingeweiht worden, legten sich die Schatten des Ersten Weltkrieges über die Stadt. Die Kurgäste blieben aus, das prunkvolle Interieur des Prachtbaus musste einer Kriegsküche weichen.
Nichtsdestotrotz hatte das Meraner Kurhaus die wechselhaften Zeiten überdauert. Heute erstrahlte es in neuem Glanz und bildete wie zu Beginn den festlichen Rahmen für Konzerte, Bälle und andere Unterhaltungen. Kongresse, Tagungen und Konferenzen waren hinzugekommen.
Wie das Kurhaus erfreute sich das Café, das sich zwischen großem und kleinem Kursaal an der Promenade befand, regen Besucherstroms. Dorthin machte Lenz sich auf den Weg und erklomm die wenigen Stufen, die auf die Terrasse des Cafés führten. An einem der Tische unter der Markise saß Jenny Sommer und blätterte in der Speisekarte.
Lenz trat an ihren Tisch und nahm ihr gegenüber Platz.
»Hallo, Lenz, schön, dass du Zeit hast«, begrüßte sie ihn.
Lenz betrachtete die Frau, die ihm zulächelte. Er war gespannt, was sie ihm zu berichten hatte. Zum Mittagessen im Kallmünz war sie nicht erschienen. Jenny hatte ihn angerufen und gefragt, ob sie sich treffen könnten. Sie hätte etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Er hatte das Café vorgeschlagen.
Sie kam sofort zur Sache. »Ich war in Arthurs Zimmer.«
Wie bitte? Sie war in Arthurs Zimmer gewesen. War sie etwa über den Balkon hineingeklettert? Er erinnerte sich daran, wie sie im Vorjahr in Bozen die Zimmer der Delegation durchsucht hatte und dabei fast erwischt worden wäre.
Nur durch einen waghalsigen Sprung auf einen Baum hatte sie sich vor der Entdeckung retten können. Er hatte Jenny quer über einen Ast hängend gefunden und sie aus ihrer misslichen Lage befreit.
Bei der Erinnerung daran musste er unwillkürlich geschmunzelt haben, denn Jenny sagte: »Du brauchst dich gar nicht über mich lustig machen. Ich bin durch die Tür hinein- und auch wieder hinausgegangen.«
Das war immerhin etwas. Fragte sich nur, wie sie das bewerkstelligt hatte.
»Diesmal war es ganz einfach«, sagte Jenny. »Die Tür stand offen und die Zimmerfrau war gerade im Bad. Da bin ich einfach hineinspaziert.«
»Wenn sie dich erwischt hätte, was hättest du ihr erzählt?«
Die Kellnerin kam und brachte die Bestellung.
»Sie hat mich ja erwischt. Ich habe ihr meinen Badge, der mich als Kongressteilnehmerin ausweist, gezeigt und gesagt, dass ich für einen Gast etwas holen müsse.«
»Das hat sie dir geglaubt?« Lenz bezweifelte, dass Jenny so glimpflich davongekommen war.
»Na ja, ein wenig misstrauisch war die Frau. Da habe ich einfach behauptet, dass ich Arthurs Freundin sei und mir Sorgen mache, weil er letzte Nacht nicht wie ausgemacht zu mir ins Zimmer gekommen ist.« Jenny nahm einen Schluck von ihrer Limonade, bevor sie fortfuhr: »Weißt du, was die Zimmerfrau mir geantwortet hat?«
»Dass du dich verkrümeln sollst?«
Jenny verschluckte sich beinahe – allerdings nicht vor Verlegenheit, sondern vor Lachen. »Da kennst du die Frauen schlecht. Sie hat erst etwas verlegen getan und rumgestottert, bevor sie mir gesagt hat, dass ich ihr leidtue. Und ich solle mich lieber nach einem anderen umschauen.«
Lenz verstand gar nichts mehr.
Jenny beugte sich über den Tisch und setzte mit leiserer Stimme fort: »Sie hat mir gesagt, ich solle mir einen anderen suchen, denn der, um den es hier gehe, sei es nicht wert, dass ich mir seinetwegen den Kopf zerbreche.«
»Sagst du mir auch, warum nicht?«
Jenny senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Weil er die Nacht mit einer anderen Frau verbracht hat.«
»Arthur hat gestern Nacht mit einer Frau geschlafen?« Lenz hatte so laut gesprochen, dass die Gäste an den Nebentischen die Köpfe
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