Kurschattenerbe
entfernt lag.
Unterwegs blieb sie stehen, um das Medaillon zu betrachten. Sie bemerkte den Schnappverschluss, der sich an einer der Längsseiten des Ovals befand. Dass sie den übersehen hatte. Dabei war es nahe liegend, dass sich in dem Schmuckbehältnis ein Erinnerungsstück befand. Ob es eine Locke von Sascha war? Oder doch eher eine Fotografie von Tony, von dem man unschwer vermuten konnte, dass er nicht nur Katerynas Manager, sondern auch ihr Liebhaber war?
Jenny konnte der Versuchung nicht widerstehen. Sie drückte auf den Schnappverschluss und der Deckel sprang auf. Das Bild, das Jenny sah, raubte ihr beinahe den Atem. Es zeigte weder Sascha noch Tony, sondern eine Miniatur der Zeichnung, die sie heute bei Martha gesehen hatte: Oswald auf dem Fass.
Erneut rief sie sich die Szene in Erinnerung, die sie beim Konzert auf der Burg beobachtet hatte: Sascha, die das Motiv des schiffbrüchigen Ritters auf dem Weinfass auf einen Schreibblock kritzelte. Damals war es Jenny seltsam vorgekommen, dass das Mädchen allein aufgrund des Liedes, das die ›Freudenklänge‹ zuvor gesungen hatten, in der Lage war, ein derartiges Sujet anzufertigen. Nun wurde ihr klar, dass Sascha das Motiv von der Zeichnung, die sich im Inneren des Medaillons befand, kannte. Und Kristl wiederum hatte das Motiv in Peter Mitterers Atelier gesehen. Demnach zeigten das verschwundene Bild des Mordopfers und Katerynas Medaillon ein und denselben Mann: Oswald auf dem Weinfass. Welchen Zusammenhang gab es zwischen der Geschäftsfrau aus der Ukraine und dem Heimatmaler aus Südtirol?
Jenny konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie musste zurück in ihr Hotel und mit Lenz reden. Vielleicht fiel ihm eine Erklärung ein.
Ob seine Besprechung mit Viola mittlerweile zu Ende war? Er hatte sich rasch von Jenny verabschiedet und war mit der Geigerin weitergegangen. Jenny war zunächst empört gewesen. Dann besann sie sich darauf, dass Lenz Kongressorganisator war. Als solcher musste er sich wohl um die Anliegen der Teilnehmer kümmern. Schließlich hatte er Viola heute Nachmittag vertröstet. Es wäre unhöflich gewesen, sie neuerlich abzuweisen.
Jenny sah die Silhouette ihres Hotels vor sich auftauchen. Wahrscheinlich würde sie Lenz an der Bar treffen. Zuversichtlich betrat sie das Gebäude.
*
»Möchte der Herr vielleicht einen Blick in die Dessertkarte werfen?« Maurice Jungmann winkte ab. Er hatte ein hervorragendes Dinner mit Vor- und Hauptspeise genossen. Auf einen dritten Gang verzichtete er lieber. Da war ihm der Erhalt seines vitalen, durchtrainierten Körpers wichtiger.
»Einen Digestiv können Sie mir bringen.«
Der Oberkellner nickte mit ernster Miene. »Sehr gerne. Ich empfehle Ihnen einen Schnaps hier aus der Gegend. Wir hätten auch einen Grappa. Oder hätte der Herr lieber einen schönen Cognac? Da kann ich Ihnen …«
Maurice unterbrach: »Danke, ich nehme den Schnaps.«
»Sehr wohl, der Herr. Kommt sofort.«
Der Oberkellner entfernte sich. Zufrieden sah Maurice sich in dem romantischen Gartenrestaurant von Schloss Pienzenau um. In der Villa Tirolia wurde zwar ein recht anständiges Abendessen serviert. Doch es ließ für seinen Geschmack die Raffinesse vermissen.
Natürlich hätte er sich auch im Grand Hotel, dem zweifellos besten Haus der Stadt, einquartieren können. Von seinem Professorengehalt hätte er es sich nicht leisten können. Seine Autorentantiemen ermöglichten ihm ein Leben in weit großzügigerem Stil. Doch obwohl er auf einen gewissen gediegenen Lebensstil Wert legte, war ihm sinnlose Geldverschwendung zuwider.
Er hatte seine Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen nicht vergessen. Auch wenn er dem Bergdorf, in dem er geboren und aufgewachsen war, längst den Rücken gekehrt und in eine der vermögendsten Familien Basels eingeheiratet hatte, so widerstrebte es ihm doch, mit seinem Reichtum zu protzen. Seine Frau Babette sah das freilich anders. Wenn er mit ihr und den beiden Töchtern in den Urlaub fuhr, war nicht einmal das Beste gut genug. Ständig hatte sie etwas zu kritisieren und die jungen Damen im Alter von 16 und 18 Jahren waren nicht gerade leicht zufriedenzustellen. Er wunderte sich, dass die beiden Teenager gemeinsam mit den Eltern verreisten, war er selbst in ihrem Alter doch längst seiner eigenen Wege gegangen. Aber er war ja schließlich – im Gegensatz zu seinen beiden Töchtern – nicht auf Rosen gebettet worden.
»Einen Schnaps für den Herrn. Sehr zum Wohl.« Der
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