Kurschattenerbe
verfinsterte sich wieder. »Pass mal auf«, sagte er. »Wenn wir den ganzen Tag mit Sascha unterwegs sind, bleibt uns keine Zeit mehr, mit dem Kanu zu fahren.«
Jetzt war es Victor, dessen Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. »Daran hab ich gedacht, Bruderherz. Einer fährt hinter dem Mädchen her, einer trainiert. Wir wechseln uns ab.«
Juri stieß zufrieden die Luft aus, die er bisher vor Anspannung angehalten hatte. Sein Bruder hatte immer die besten Ideen.
Endlich sah er Sascha mit dem Rad daherkommen. Das wurde auch Zeit. Gleich würden sie zu dritt um die Ecke biegen und die Einfahrtsrampe hinaufradeln.
*
»Können Sie mir sagen, wo ich Frau Maximowa finde?« Jenny stand an der Rezeption des Grand Hotels und bemühte sich, einen möglichst geschäftsmäßigen Eindruck zu machen. Sollte der Portier ruhig denken, sie und die Ukrainerin – zweifellos einer seiner betuchtesten Gäste – seien verabredet.
Der Mann hinter dem Pult musterte sie. »Bedaure«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Frau Maximowa und Herr Perathoner haben das Hotel vor zehn Minuten verlassen.«
Jenny hatte sich ihre Enttäuschung wohl anmerken lassen, denn der Rezeptionist fügte hinzu: »Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Jenny überlegte, ob sie das Medaillon mit einer kurzen Nachricht hinterlegen sollte. Sie entschied sich jedoch dagegen, sie wollte ein so wertvolles Schmuckstück lieber persönlich übergeben. Sie würde es morgen wieder versuchen. Am besten sie kam gleich nach dem Frühstück, dann würde sie Kateryna, die eine Spätaufsteherin war, sicher antreffen.
»Nein danke«, sagte sie daher und ging zum Ausgang. Bevor sie bei der Drehtür aus goldgerahmtem Glas angekommen war, besann sie sich. Wenn sie schon hier war, konnte sie sich ebenso gut ein wenig umsehen. Wann hatte sie sonst Gelegenheit, einen solchen Luxustempel von innen zu begutachten?
Anstatt das Hotel zu verlassen, schlenderte Jenny durch die Lobby. Beiläufig warf sie einen Blick in einen der Schaukästen, die hier mit ausgewählten Stücken teurer Nobelmarken dezent für einen Besuch in der Hotelboutique warben. Vorbei an prunkvollen Spiegeln und pompösen Plüschsofas gelangte sie zum Eingang des Speisesaals. Davor stand ein Herr im dunklen Abendanzug, der mit huldvoller Miene die Eintreffenden, die sich samt und sonders in Schale geworfen hatten, begrüßte.
Jenny gewann den Eindruck, dass nur Hotelgäste Zutritt hatten. Sicher gab es irgendwo eine Bar, die von Laufkundschaft frequentiert wurde. Da würde sie sich einen Drink genehmigen. Es gab Einiges, worüber sie nachdenken wollte, bevor sie wieder in ihr Hotel zurückkehrte. Ehe sie sich vom Restaurant abwandte, erhaschte sie einen Blick auf das Innere des pompösen Saales mit seinen weißen Marmorsäulen und den ebenfalls ganz in weiß gehüllten Tischen und Stühlen.
Plötzlich hatte Jenny das Gefühl, sie sähe doppelt. Hatte ihr knurrender Magen ihr Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt, sodass dieses ihr eine Sinnestäuschung vorgaukelte? Ganz in der Nähe des Eingangs sah sie zwei Männer ihre Suppe löffeln, die einander glichen wie ein Ei dem anderen: Beide hatten dieselben flachsblonden Haare, wasserblaue Augen und breitflächige Gesichter. Die hohen Wangenknochen ließen vermuten, dass die beiden Männer slawischer Herkunft waren.
Natürlich! Mit einem Mal war Jenny alles klar. Sie hatte keine Halluzinationen. Das waren Victor und Juri, Saschas Aufpasser. Sie erkannte das Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr saß. Der Lockenschopf mit der Basecap, die sie selbst in dem vornehmen Restaurant nicht abnahm, gehörte Sascha. Ob sie einfach hineingehen und ihr das Medaillon geben sollte?
Nach kurzer Überlegung entschied Jenny sich dagegen. Sie hatte keine Lust, dem Empfangschef, der sich gebärdete wie Petrus an der Himmelspforte, Erklärungen abzugeben. Und ohne diese würde er sie sicher nicht in sein Allerheiligstes lassen. Besser, sie geduldete sich bis morgen. Sie wollte ohnedies mit Kateryna sprechen und von ihrer heutigen Begegnung mit Sascha berichten. Sie verdächtigte das Mädchen zwar nicht des Diebstahls. Aber es war doch seltsam gewesen, wie sie, kaum dass sie ihrer und Lenz ansichtig wurde, die Flucht ergriffen hatte und davon geradelt war.
Ganz in Gedanken gelangte sie unversehens wieder zur Eingangstür des Grand Hotels. Sie hatte keine Lust mehr, etwas zu trinken. Rasch verließ sie das Gebäude und ging zurück in ihr Hotel, das nur wenige Gehminuten
Weitere Kostenlose Bücher