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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Neureiter
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dass heute nicht mehr Mai, sondern der 1. Juni war, ihre Überzeugung, dass Oswalds Lied ein gutes Omen für sie sei, zu beeinträchtigen.
    Während Viola in ihrem Hotelzimmer in Unterwäsche zwischen Schlafraum und Bad hin und her hüpfte, sang sie munter weiter:
    »Trag Blätter, Sträuchlein,
    wachse, Pflänzchen,
    auf ins Bad,
    Ösli, Gretli,
    Viola und …«
    Nein, Halt, Stopp! Den Namen ihres Geliebten würde sie nicht verraten. Nicht einmal in ihren eigenen vier Wänden, wo keiner sie hören konnte. Es war zu früh.
    Eines war für sie sicher: Heute Nacht war ihr der Durchbruch gelungen. Bald würden alle es erfahren, dass sie – sie allein – die Frau an seiner Seite war. Bald wäre Schluss mit dem Versteckspielen und den Heimlichkeiten.
    »Bring den Zuber,
    hasch mich, fang mich.
    Wasch mir das Köpflein
    reib mich am Näblein …«
    Dieses Oswald-Lied hatte es in sich. Es war voll erotischer Anspielungen … Viola war stehen geblieben und betrachtete sich im Spiegel, der über der Kommode angebracht war. Sie konnte sich darin bis zu den schmalen Hüften sehen, über die sie sich strich.
    Zufrieden lächelte sie. Vergangene Nacht war es nicht nur bei Anspielungen geblieben. Sie und ihr Liebhaber hatten die Wonnen, die Oswald in seinem Lied andeutete, voll ausgekostet.
    Zugegeben, er hatte sie zappeln lassen. Hatte sich gesträubt, versucht, sich ihr zu entziehen. Doch das war einzig und allein dem Anstandsgefühl gegenüber der anderen Frau geschuldet. Sie, Viola, hatte bessere Argumente – viel bessere Argumente. Was kümmerte es sie da, dass ihre Geige abhandengekommen war. Die würde sie so oder so bald einmotten.
    Ein Klopfen riss Viola aus ihren Tagträumen. Rasch warf sie sich einen Morgenmantel aus Chinaseide über und öffnete.
    Der Kellner stand mit einem voll beladenen Tablett vor der Tür. Sie hatte sich das Frühstück aufs Zimmer bestellt. Heute wollte sie es sich so richtig gut gehen lassen.
    »Wo darf ich es hinstellen?«, fragte der junge Mann und warf dabei einen Blick auf Violas geschmeidige Schenkel, die von dem dünnen Stoff nur spärlich bedeckt wurden.
    Viola zog den Morgenmantel enger um sich. »Stellen Sie es hier auf den Nachttisch. Ich frühstücke heute im Bett.«
    Kaum hatte der Kellner sich verabschiedet, schnappte Viola sich ein Stück Gebäck und biss herzhaft hinein.
    *
    Jenny konnte ihr Frühstück nicht genießen. Die Ereignisse des gestrigen Abends hatten sie schlecht schlafen lassen und verdarben ihr den Appetit.
    Hoffnungsfroh war sie gestern nach der Entdeckung der Miniatur in die Villa Tirolia zurückgekehrt. In der festen Überzeugung, Lenz dort anzutreffen, hatte sie die Bar aufgesucht – beziehungsweise jenen Aufenthaltsraum, der sich hochtrabend mit dieser Bezeichnung schmückte. Dieser war, nachdem man dort normalerweise grellem Neonlicht den Vorzug gab, bereits in ein Halbdunkel getaucht. Auf den ersten Blick konnte Jenny im Schummerlicht keine Gäste mehr entdecken. Unverrichteter Dinge wollte sie den Raum wieder verlassen, als sie aus einer Sitzecke Gemurmel vernahm.
    In der Hoffnung, Lenz zu entdecken, näherte Jenny sich der Ecke, aus der das Geräusch kam. An der Kante der mit Kunstleder bezogenen Sitzbank saß eine Frau. Viola. Sie beugte sich nach vorn und legte ihre Hand auf den Arm eines Mannes. Jenny konnte nicht erkennen, wer es war, denn Violas Gesprächspartner saß mit dem Rücken zu ihr. Die Größe, mit der er über die Lehne hinausragte, und der männliche Kurzhaarschnitt ließen über das Geschlecht des Betreffenden keinen Zweifel.
    »Viola«, begann er. Jenny, die sich bisher ganz still verhalten hatte und von dem Paar nicht entdeckt worden war, spitzte die Ohren und hörte den Mann sagen: »Musst dir keine Sorgen machen. Finden wir eine Lösung.«
    Lenz! Jenny hätte es sich denken können. Nur allzu bereitwillig hatte er sich vorhin in der Gilf von Viola überreden lassen, mit ihr mitzugehen. Dabei war er im Begriff gewesen, sie, Jenny, zu küssen. Oder hatte am Ende ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt? Hatten ihr der Duft von Limonen und die schwüle Luft des Biotops die Sinne benebelt?
    Einmal mehr kamen in Jenny Zweifel an ihrem Wahrnehmungsvermögen auf. Klar war ihr nur, dass sie sich so rasch und unauffällig wie möglich aus der Bar zurückziehen musste. Sie hatte wahrlich keine Lust, in dieses Tête-à-Tête zu platzen. Sollte Lenz, dieser Casanova, ihr doch gestohlen bleiben.
    Irgendwie hatte sie es geschafft, den Raum

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