Kurschattenerbe
Überraschung kurzfristig die Rede verschlagen hatte, sagte: »Es gehört Kateryna. Ich habe es bei ihr gesehen.«
»Bist du sicher?«, fragte Lenz. »Wieso sollte Sascha …« Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Mir ist alles klar. Das Mädchen ist Kleptomanin.«
»Sascha, eine Kleptomanin? Das ist doch absurd. Wie kommst du denn auf die Idee?« Jenny war empört. Dafür, dass Sascha das Medaillon ihrer Mutter bei sich trug, gab es sicher eine simple Erklärung. Sie fand es voreilig von Lenz, Sascha eines – krankhaft motivierten – Diebstahls zu bezichtigen. Wahrscheinlich hatte Kateryna ihrer Tochter den Schmuck geborgt. Am besten Jenny ging gleich ins Grand Hotel und gab das Medaillon zurück – Sascha oder ihrer Mutter, je nachdem, wen sie antreffen würde. Lenz ließ sich jedoch nicht so leicht von der Unschuld des Mädchens überzeugen.
»Nein«, widersprach er. »Du verstehst mich nicht. Der Polizist, der mich verhört hat, glaubt, dass Sascha Violas Vielle gestohlen hat. Da wäre es doch nahe liegend …«
»Wie bitte!«, unterbrach Jenny ihn. »Inspektor Comploi glaubt, dass Sascha die Geige gestohlen hat? Wer hat ihm denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
Lenz wandte seinen Blick ab und betrachtete das Medaillon, als stünde die Antwort in dem feinziselierten Muster der Oberfläche.
Schlagartig wurde Jenny bewusst, wer hinter der Sache steckte. Natürlich, es war Lenz gewesen! Er hatte ihr berichtet, dass der Inspektor ihn so lange verhört hatte, bis Lenz ihm gesagt hatte, dass er Sascha aus dem Wagen klettern sah. Jenny hatte sich zunächst nichts dabei gedacht. Dabei hätte ihr gleich klar sein müssen, dass die Polizei die falschen Schlüsse aus einer solchen Aussage ziehen würde. Damit nicht genug, verdächtigte Lenz Sascha nun ebenso.
Jenny rückte von Lenz ab und machte einen Schritt zur Seite. Dabei übersah sie, dass der Weg leicht abschüssig war. Sie konnte nicht mehr Tritt fassen, verlor das Gleichgewicht und strauchelte. Jenny sah sich bereits mit aufgeschürften Knien am Boden liegen. Doch im nächsten Moment hatte sie wieder einen festen Stand. Lenz war auf sie zugetreten und hatte sie mit beiden Armen umfasst.
Jenny entspannte sich. Das war knapp. »Danke«, murmelte sie und wollte sich aus der Umklammerung befreien. Doch ihr Begleiter und nunmehriger Retter ließ sie nicht los. Im Gegenteil: Er zog sie enger an sich, strich ihr sanft mit einer Hand von der Taille aufwärts in den Nacken und bog ihren Kopf ein wenig zurück. Sein Gesicht näherte sich dem ihren.
»Lenz, hier bist du. Ich habe dich überall gesucht. Ich muss endlich mit dir sprechen.« Wie aus dem Nichts war Viola aufgetaucht.
*
Beim Lieferanteneingang des Grand Hotels standen zwei Männer, die einander zum Verwechseln ähnlich sahen: Victor und Juri, die beiden Zwillingsbrüder. Ihre Fahrräder, die sie am Nachmittag unweit des Hotels deponiert und mit denen sie das letzte Wegstück zurückgelegt hatten, lehnten an der Hauswand.
Juri sah – er unterschied sich von seinem Bruder durch ein winziges Muttermal am rechten Ohrläppchen, das nur den wenigsten auffiel – auf seine Rolex. »Fünf vor sieben. Wird Zeit, dass sie auftaucht«, sagte er zu Victor. Der antwortete nicht, sondern starrte in die Richtung, aus der Sascha kommen sollte. Wenn er’s recht bedachte, gefiel ihm die Sache immer weniger. Sie hätten sich mit dem Mädchen nicht auf den Deal einlassen dürfen. Andererseits: Welche Wahl war ihnen denn geblieben, nachdem Tony die blödsinnige Idee mit den Fahrrädern gehabt hatte? Er musste doch wissen, dass sie keine Chance hatten, der Kleinen auf den Fersen zu bleiben, wenn die es nicht wollte. Wahrscheinlich hatte Kateryna Maximowa darauf bestanden und Tony tanzte nach ihrer Pfeife – wie so oft in letzter Zeit …
»Juri«, sagte er zu seinem Bruder, »morgen besorgen wir uns E-Bikes.«
Der Hüne Juri, der ebenso wie Victor trotz seiner vielen Muskeln überraschend geschmeidig wirkte, sah seinen Bruder verständnislos an. »E-Bikes? Was sollen wir mit E-Bikes?«, fragte er verdutzt.
»Überleg mal«, antwortete sein Bruder prompt. »Die gehen mit Strom. Da kann uns die Kleine nicht so schnell abhängen.«
Juri grinste. »Und wir müssen nicht mehr wie die Verrückten strampeln. Stattdessen sparen wir unsere Kräfte für das Kanurennen.«
Zufrieden schlug er in die Hand ein, die sein Bruder ihm reichte. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf und seine Miene
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