Kurt Ostbahn - Platzangst
Waschbecken zu pinkeln, ihm das Nötigste für einen schnellen Abgang einzupacken. Für Erklärungen sei jetzt keine Zeit, nur so viel: Die Scheiße ist am Dampfen. Bis ein Uhr früh kein Lebenszeichen. Dann stand er plötzlich vor der Tür und sah aus, als wäre er unter die Tramway geraten. Blutverschmiert. Cut überm linken Auge, die Nase höchstwahrscheinlich gebrochen, der rechte Eckzahn mit Sicherheit ausgeschlagen. Alles, was der Walter wollte, war eine Packung Papiertaschentücher, seinen gepackten Koffer und sofort abhauen. Mit den kargen Worten: „Ich muß weg!“ Und Gitti stand da, ihr gemeinsames Kind im Arm, und sagte: „Und was wird aus mir? Und aus unserem Kind?“ Aber dem Walter Kaltenbeck ging’s nur ums nackte Überleben, und drum sagte er: „Ich ruf dich an. Ich hab ja mein Handy!“
Gitti zündet sich eine Memphis an und schaut eine Weile den Rauchkringeln nach, die langsam zur Decke steigen.
„Ich hab ja mein Handy, hat er gesagt“, wiederholt sie leise, dann erlischt schlagartig ihr Interesse an den Wolkenmustern, die der Zigarettenqualm in die dicke Luft der Kaltenbeck-Küche zaubert, sie schaut mich mit zusammengekniffenen Lippen an und sagt: „Das hab ich ihm heuer zu Weihnachten geschenkt, sein verschissenes Handy!“
„Hmm“, sage ich.
Und nach einer längeren Pause, in der ich den letzten Rest vom günstigen Roten in unser beider Gläser gieße und mit mir selbst auf Indianerehrenwort abmache, heute keine Fragen mehr zu stellen und auch keine Knapp-Fotos mehr zuzulassen, sondern nach diesem Schluck das Weite zu suchen, legt Gitti ihre Hand auf die meine und drückt sie sanft.
„Darf ich dich was fragen, was ich dich schon die längste Zeit fragen wollt, Kurtl?“ sagt sie.
„Frag, was du willst“, sage ich und weiß in diesem Augenblick, daß auf mein Indianerehrenwort auch nicht mehr so viel Verlaß ist wie früher.
„Okay. Aber nicht bös sein. Okay?“
„Ausgmacht.“
Gitti drückt umständlich ihre Zigarette aus.
„Wieso wohnst du eigentlich da oben? Ich mein, wieso hast du keine Familie, oder eine Freundin? Versteh mich nicht falsch, aber man kriegt ja unweigerlich mit, was bei den Nachbarn so rennt, oder? Und du bist da oben immer allein. Wieso hast du niemanden? Oder interessiert dich das nicht?“
„Wie meinst das?“
„So wie ich’s sag. Ich mein, der Walter hat sich so lang für mich interessiert, bis der Kleine gekommen is. Und seit der Gschrapp auf der Welt is, is bei ihm tote Hose. Der Walter hat mich nimmer angegriffen, ich weiß nicht, seit drei Monaten mindestens. Aber es gibt auch Männer, die interessiert des überhaupt nicht. Die interessieren sich für ganz andere Sachen.“
„Zum Beispiel?“ sage ich.
Gitti verdreht die Augen und trommelt mit ihren langen blutrot lackierten Fingernägeln auf der Tischplatte.
„Ich hab immer glaubt, mit dir kann man normal reden“ sagt sie und streicht sich dann die lästige blonde Strähne aus dem Gesicht, was auch ohne türkisfarbene Gummihandschuhe nicht ohne Reiz ist. „Es is ganz einfach. Bist scharf auf mich oder bist es nicht? Vorhin hast mich einmal angschaut, da hab ich das Gefühl gehabt, du willst mich am liebsten gleich da am Küchentisch niederreißen.“
„Ahja?“ lüge ich, um gleich drauf von einer videoclipartigen Bildfolge von Knapp-Szenarios mit Gitti Kaltenbeck in der Hauptrolle überrollt zu werden, die mich schließlich zu der wahrheitsgemäßen Aussage zwingen: „Also ganz so war’s ned vorhin. Aber ziemlich ähnlich.“
„Wie ähnlich? Erzähl“, meint Gitti, und ihr Lächeln ist vielversprechender als alles, das ich in den letzten Monaten auf Video und Film, geschweige denn im wahren Leben gesehen habe.
Ihre nackten Zehen klettern schön langsam an meinem Schienbein hoch, und meine rechte Hand will sich soeben unterm Küchentisch auf Erkundungsgang machen, da kräht wie auf Stichwort der jüngste Kaltenbeck im Wohnzimmer.
„Bitte, nein! Muß das sein?“ stöhnt Gitti und springt auf. „Er hat momentan die Scheißerei.“
„Wie heißt er eigentlich, der Kleine?“ frage ich. „Walter“, sagt sie. „War nicht meine Idee.“
12
Hasenöhrl Junior trägt einen schwarzen Wintermantel, einen dunkelblauen Anzug aus Schurwolle und zu viel scharfes Rasierwasser. Nachdem er sich in der alten Kaltenbeck-Küche umgesehen hat, macht er ein Gesicht, als wäre sein nächster Termin an diesem regnerischen Vormittag die Beerdigung eines nahen Verwandten.
„Das kostet
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