Kurt Ostbahn - Platzangst
versucht Iris runterzukommen, durchzuatmen, nachzudenken. Sie zwingt sich zu regelmäßiger Arbeit und zu einem gesünderen Leben. Doch kaum ist der Knapp von seinen Reisen zurück, gibt wieder er das Tempo vor, und das ist mörderisch. Und wenn es mit Bleifuß und dem Tacho am Anschlag durchs Leben geht, dann sitzt immer er am Steuer, fahrt konsequent seine Route, duldet keinen Widerspruch, legt die Zwischenstops fest und auch, wer mit an Bord darf. Vorzugsweise hübsche junge Anhalterinnen.
Heute weiß Iris, daß sie es schon damals gewußt hat, aber noch zu sehr unter seinem Einfluß stand, um die Konsequenzen ziehen zu können: Der Knapp ist unfähig, einen anderen Menschen zu lieben als sich selbst, und wer sich mit ihm einläßt, ist von Anfang an nicht Partner, sondern Opfer. Sein ganz besonderes Talent besteht darin, dem Opfer das Gefühl zu geben, Königin seines Reiches zu sein. Nur: Sollte die es je wagen, Kritik an seiner Amtsführung zu üben, dann wird sie ganz schnell zur gemeinen Leibeigenen degradiert. Eben noch warst du schön und begehrt, und plötzlich fühlst du dich an seiner Seite nur noch schmutzig und mißbraucht.
Iris und Knapp, die letzten sechs Monate: Am Anfang vom Ende spielt sie noch bei seinen Spielen mit, läßt sich demütigen, wenn er andere Frauen mit nach Hause, mit ins Bett bringt oder Wildfremde anschleppt, die er ihr als alte Freunde präsentiert, wobei sie genau weiß, daß er sie irgendwo in einem Lokal aufgelesen oder engagiert hat, gegen Bargeld oder Drogen. Fertige Typen und durchgeknallte Disco-Kinder, sexhungrige Spießer aus dem Sauna-Club und abenteuerlustige Swinger-Pärchen. Sie werden im Atelier mit allem bewirtet, dem man aphrodisierende Kräfte nachsagt, und der Knapp delektiert sich an den Folgen. Weil er selbst bei seinen Orgien das Heft nicht aus der Hand gibt, inszenieren und dirigieren muß, hat jede dieser bacchanalischen Nächte im Fotokeller ihr eigenes Szenario, nach dem er seine Laiendarsteller auswählt, die sich dann in der entsprechenden, zumeist nur durch ein paar Requisiten angedeuteten Dekoration ihren Sinnenfreuden hingeben dürfen.
Iris hat eine karibische Nacht (mit zwei pummeligen Nutten aus der Dominikanischen Republik und einem exhibitionistisch veranlagten Paar aus St. Pölten) mitgemacht und eine weitere unter dem Motto „Saints and Sinners“, dann kann und will sie mit dem Knapp nicht länger mithalten. Denn es ist nur noch der Knapp, der zählt, seine Ideen, seine Phantasien, seine Bilderwelt. Die Darsteller sind austauschbar. Kommen und gehen. Oder werden gegangen, wie dieser eine Typ in Knapps „Heiliger Nacht“, der wohl von allem zu viel erwischt hatte, und dann darauf bestand, als „Hl. Blasius“ von Iris oral befriedigt zu werden, während eine zweite Sünderin durch Strangulation mit ihrem linken Seidenstrumpf seinen Abgang ins Himmelreich bewerkstelligen sollte.
Iris weiß nicht mehr, wie oft sie in diesen letzten Monaten die Villa in der Auhofstraße für immer verlassen hat, um kurz darauf wieder einzuziehen, bis sie Anfang Juni dann endgültig ging.
Sie verkriecht sich immer wieder bei ihrer Mutter, fühlt sich krank und elend, während der Knapp seine beruflichen Interessen immer mehr ins Ausland verlagert und eigentlich nur noch nach Wien kommt, um hier durchzuhängen oder seine Kellerparties zu schmeißen. Wenn sie bei ihm ist, behandelt er sie wie ein Stück Inventar, das man die längste Zeit schon loswerden wollte, wenn er unterwegs ist, ruft er spätnachts an und macht ihr glühende Liebeserklärungen. Dabei wirkt er niemals wirklich nüchtern. Ein vernünftiges Gespräch ist nicht mehr möglich. Das wissen auch seine beiden Assistenten, die ihn auf dem Weg nach oben begleitet haben, und nach Claus, der bereits kurz nach Weihnachten das Handtuch geworfen hat, geht im April auch Bernhard, der dem Knapp jahrelang nebenbei und unbezahlt auch die Buchhaltung gemacht hat. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Sagt der Knapp. Und da er zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Absprung nach Hamburg und von dort ins fotografische Hollywood ist, heuert er für die Bodenstation in Wien garnicht erst eine neue Mannschaft an, sondern überläßt sein Atelier, in der Zeit wo er sich auswärts immer weiter nach oben knipst, bedürftigen Freunden und erotisch Gleichgesinnten.
Iris hat vergessen, wer diese Untermieter waren, sie weiß nur noch, daß sie die Typen, die sie hin und wieder gesehen hat, nie im Leben ihrem
Weitere Kostenlose Bücher