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Kurt Ostbahn - Platzangst

Kurt Ostbahn - Platzangst

Titel: Kurt Ostbahn - Platzangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guenter Broedl
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und Rinderstampeden bombardiert, bis ihm Iris den Stecker rauszieht. Jetzt will der Doc gehen, aber es ist gleich Mitternacht und Knapp hat sich eine Einlage einfallen lassen, für die er seine Gäste ins Atelier im Keller bittet.
    Was dort passiert, schlägt den DJ-Auftritt des Doc um Längen und markiert auch den dramatischen Endpunkt ihrer Beziehung: Als die Geburtstagsrunde in freudiger Erwartung einer Knapp’schen Showeinlage voll knisternder Erotik in den unterirdischen Turnsaal drängt, ist dieser bis auf zwei große Holzkisten völlig leergeräumt und mit Baufolie ausgelegt. Dann fällt hinter dem letzten Gast die Tür ins Schloß, und gleichzeitig gehen alle Lichter aus. Gut dreißig Leute stehen im Dunkeln und harren der Dinge. Helles Partylachen schrumpft schnell zu verunsichertem Kichern, die lautesten Witzbolde werden bald leiser, und die größten Knapp-Experten, die vorhin noch ganz genau wußten, daß man heute Augenzeuge einer viktorianischen Züchtigung unartiger Schulmädchen in originalen Vivianne-Westwood-Kostümen werden würde, nehmen kleinlaut ihre Prognose zurück. Keiner der Eingeschlossenen findet es besonders witzig, zusammen mit dreißig anderen in einem stockfinsteren Keller festzusitzen, in dem nichts passiert.
    Der Doc ist der erste, der dies auch lautstark kundtut. Wie man weiß, gibt es viele Dinge, die er nicht ausstehen kann: die Sonne, die Hitze, zirka 97 Prozent seiner Mitmenschen, kleine kläffende Hunde, und ganz besondern haßt er jede Form von Menschenansammlung in engen geschlossenen Räumen. Der Doc geht nie ins Kino, der Doc besteigt nur äußerst widerwillig einen Aufzug, der Doc flüchtet aus überfüllten Wartezimmern. Der Doc hat Platzangst.
    Dann geht ein Raunen durch die Menge, das schnell zu einem Fluchen, Schreien und Kreischen anschwillt, während von allen Seiten gedrängt, geschubst und geschoben wird. Hände grapschen und Nägel krallen auf der Suche nach Halt. Die ersten fallen und reißen andere mit sich zu Boden. Und jetzt geht das Licht wieder an, die Tür fliegt auf, und Frido Knapp steht da und schießt Erinnerungsfotos von seinen Partygästen, die über den Boden kriechen, sich mit schreckensweiten Augen aneinander klammem und erst nach und nach begreifen, was da im Finstern eigentlich geschehen ist: Das Geburtstagskind hatte den famosen Einfall, ein halbes Dutzend Tauben in den beiden Holzkisten einzuschließen und im richtigen Moment für seine im Dunkeln tappende Festgesellschaft fliegen zu lassen.
    Der Doc ist der erste, der auf Knapps Mittemachtseinlage (Titel: „La Paloma“) reagiert. Er schlägt dem Jubilar die Kamera aus der Hand und verläßt ohne ein Wort des Abschieds die Stätte des Grauens. Und in der Folge auch Iris’ Leben. Zuerst bleibt er für sie wochenlang unerreichbar. Dann kommt ein Brief, in dem der Doc sein Fehlverhalten bei Knapps Geburtstagsfest bedauert, viel mehr noch bedauere er aber, mit eigenen Augen mitangesehen zu haben, wie sehr sie sich von diesem Kretin angezogen fühlt. Seit diesem Brief beschränkt sich sein Kontakt zur Familie Fabian auf gelegentliche Telefonate mit Iris’ Mutter.
    Was Iris bis heute beunruhigt: Wie konnte der Doc auf dieser Party an ihr Dinge feststellen, von denen sie zu diesem Zeitpunkt selbst noch nichts wußte? Sie weiß nur, daß sie sich nach dem Tauben-Spektakel und Docs Abgang irgendwie befreit, gelöst und erleichtert fühlt. Und das dringende Bedürfnis hat, nach langer Zeit wieder einmal so richtig über die Stränge zu schlagen. Gegen Morgen, als sie sich mit den letzten Gästen auf den Heimweg machen will, bittet sie der Knapp, doch noch zu bleiben. Und in den frühen Morgenstunden kommen sich Iris und der Knapp zum ersten Mal nicht nur gesprächsweise näher.
    1995. Mai. Wonnemonat. Iris zieht zu Knapp in die Auhofstraße, in jenes Haus, in dem sie als Kind viele glückliche Stunden bei ihren Großeltern verbracht hat. Aber jetzt weht hier ein anderer Wind. Der Sturm der Leidenschaft, wie man so sagt, ein Orkan der Sinne.
    Iris und Knapp, die ersten sechs Monate: Ein permanenter Rauschzustand, den man in zunehmendem Maße durch Stimulantia aller Art am Kochen hält. Tage und Wochen, in denen sie kaum das Haus verlassen, weil es draußen nichts geben kann, das seiner überdurchschnittlich regen Phantasie und ihrer grenzenlosen Neugier das Wasser reichen könnte. Wenn Knapp ins Ausland muß, weil er immer mehr lukrative Angebote aus Deutschland, Frankreich und England bekommt,

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