Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
eigentlich nach Tee zumute, aber ich raffe mich zu einem Glas Weißwein auf. Bedient werden wir von Ed, der uns – warum
auch immer – die Getränke auf einem Tablett zum Tisch bringt.
»Prost!« Mike hebt sein Glas. »Auf …« Jetzt zögert er. |281| Worauf soll man trinken mit einem Grüppchen so unterschiedlicher Leute mit so widerstreitenden Wünschen und Bedürfnissen?
»Auf den Triumph des menschlichen Geistes!«
Darauf stoßen wir an.
|282| 25.
Der Triumph des menschlichen Geistes
»Triumph des menschlichen Geistes?«, schnaubt Vera. »Meine Liebe! Das klingt zwar hübsch, aber es ist einfach nur naiv. Du
kannst mir glauben, der menschliche Geist ist niedrig und selbstsüchtig. Und das Einzige, was ihn beschäftigt, ist, wie er
sich selbst am besten nützen kann. Alles andere ist pure Sentimentalität.«
»Das sagst du, Vera. Aber vielleicht ist der menschliche Geist im Prinzip ja edel und großzügig, kreativ und einfühlsam und
fantasievoll und spirituell – alles, was wir uns zu sein bemühen –, nur manchmal ist er eben einfach nicht stark genug, um der Gemeinheit und dem Egoismus der äußeren Welt standzuhalten?«
»Spirituell! Wirklich, Nadia! Woher kommen denn deiner Meinung nach diese Gemeinheit und dieser Egoismus, wenn nicht aus dem
menschlichen Geist? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es eine übergeordnete böse Macht gibt, die die Welt heimsucht? Nein,
das Böse kommt aus dem Menschen selbst. Und ich sage dir, ich weiß, wie die Menschen tief in ihrem Inneren wirklich sind.«
»Und ich weiß es nicht?«
»Du kannst glücklich sein, dass du immer in einer Welt voller Illusionen und Gefühle gelebt hast. Es ist besser, wenn man
bestimmte Dinge einfach nicht kennt.«
»Vera, es reicht ja, wenn wir uns darüber einig sind, dass |283| wir uns nicht einig sind.« Ich merke, dass ich nicht mehr genügend Energie aufbringe, um weiter zu argumentieren. »Jedenfalls
ist Valentina wieder verschwunden. Das wollte ich dir eigentlich sagen, und deshalb habe ich dich angerufen.«
»Habt ihr auch in diesem anderen Haus nachgesehen? In der Norwell Street bei dem taubstummen Asylbewerber?«
»Ja, wir sind auf dem Rückweg vorbeigefahren, aber es war niemand da. Alles war dunkel.« Ich bin jetzt nur noch müde. Wir
haben fast eine Stunde lang geredet, und mir fehlt einfach die Kraft zum Weiterstreiten. »Ich muss jetzt schlafen gehen, Vera.
Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Nadia. Mach dir nicht allzu viele Gedanken über das, was ich gesagt habe.«
»Okay.«
Trotzdem beunruhigt es mich, dieses dunkle Wissen, das Vera da an den Tag legt. Was ist, wenn sie Recht hat?
Obwohl sie Rivalen sind, sind Papa und Dubov voneinander Feuer und Flamme. Und auf Vaters nachdrückliche Einladung hin zieht
Dubov aus seiner kleinen Zelle im Gästehaus der Leicester University aus und ins frühere Elternschlafzimmer, das dann Valentinas
Zimmer wurde, ein. Seine Habseligkeiten sind in einem kleinen grünen Rucksack verstaut, den er ans Fußende seines Bettes stellt.
Drei Tage die Woche fährt er mit dem Zug nach Leicester und kommt spätabends wieder zurück. Er erläutert Vater die neuesten
Entwicklungen auf dem Gebiet der Supraleiter, wozu er mit Bleistift saubere Diagramme zeichnet, die mit geheimnisvollen Symbolen
beschriftet sind. Vater fuchtelt mit den Händen und erklärt, es sei genau so, wie er es schon 1938 vorhergesagt habe.
Dubov ist ein praktischer Mensch. Er steht früh auf und macht Tee für meinen Vater. Er putzt die Küche und bringt |284| nach jeder Mahlzeit wieder alles in Ordnung. Er sammelt im Garten die Äpfel auf, und Vater weiht ihn in seine Toshiba-Methode
der Zubereitung ein. Dubov erklärt, in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Köstliches gegessen zu haben. Die Abende verbringen
sie damit, sich über die Ukraine zu unterhalten, über Philosophie, Dichtung und Technik. Am Wochenende spielen sie Schach.
Dubov hört aufmerksam zu, wenn Vater ihm lange Passagen aus seiner ›Kurzen Geschichte des Traktors auf Ukrainisch‹ vorliest.
Er stellt ihm sogar intelligente Fragen dazu. Tatsache ist, dass er die perfekte Ehefrau sein könnte.
Wie Vater ist auch Dubov Ingenieur, allerdings für Elektrotechnik. Während er sich auf der Suche nach Valentina im Garten
herumdrückte, hatte er ausreichend Zeit, sich die zwei Autowracks genau anzusehen, und er hat sich völlig vergafft in den
Rolls-Royce. Anders als Vater kann er sich den Wagen
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