Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Pflaumenwein hingegeben,
und ich begebe mich außer Hörweite und wende mich Mutters Garten zu. Es macht mich traurig zu sehen, wie verlottert er ist
nach diesen zwei Jahren, in denen sich niemand um ihn gekümmert hat. Allerdings verlottert er in prächtigem Überfluss. In
diesem fruchtbaren Boden treibt alles aus, was Wurzeln schlagen kann: Das Unkraut vermehrt sich, die Kriech- und Kletterpflanzen
laufen Amok, der Rasen hat die Höhe einer Naturwiese erreicht, das Obst verrottet auf der Erde und bringt seltsam gefleckte
Pilze hervor, Fliegen, Mücken, Wespen, Würmer und Schnecken futtern sich daran dumm und dämlich, und die Vögel wiederum tun
sich an den Würmern und Fliegen gütlich.
Unter der Wäscheleine bleibt mein Blick an einem durch das hohe Gras hindurchschimmernden Stück Stoff hängen. Ich bücke mich,
um es näher in Augenschein zu nehmen. Es ist der grüne Satin-BH, dessen Farbe mittlerweile ziemlich ausgebleicht ist. Ein
aufgeschreckter Ohrenkriecher kommt aus einem der enormen Cups herausgeklettert. Spontan hebe ich den BH auf und versuche
auf dem Schildchen die Größe zu entziffern. Aber auch der Aufdruck ist verblichen durch Waschpulver, Sonne und Regen. Als
ich dieses ramponierte Relikt in der Hand halte, überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl von Vergänglichkeit:
Sic transit gloria mundi
.
|274| Ich hebe den Kopf, und im selben Moment bemerke ich neben dem Haus eine Bewegung, als würde jemand sich davonstehlen. Für
den Bruchteil einer Sekunde habe ich einen bräunlichen Schatten vor Augen, oder vielleicht auch jemanden, der braun angezogen
ist – das ist er! Der mysteriöse Mann!
»Mike! Papa! Schnell!!«
Ich laufe in den Vorgarten, der immer noch von den zwei rostigen Autos beherrscht wird. Anfangs scheint es so, als sei niemand
da. Dann sehe ich einen Mann ganz still unter dem Fliederbaum stehen. Er ist ziemlich klein und untersetzt, hat braunes gelocktes
Haar und trägt einen braunen Anzug. Irgendetwas an ihm kommt mir seltsam bekannt vor.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«
Weder antwortet er noch macht er auch nur einen Schritt in meine Richtung. Seine Bewegungslosigkeit ist unheimlich, aber trotzdem
hat er nichts Beängstigendes an sich. Sein Gesicht wirkt offen und aufmerksam. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu.
»Was wollen Sie? Warum kommen Sie immer hierher?«
Er sagt immer noch nichts. Und jetzt fällt mir ein, wo ich ihn schon gesehen habe: Er ist der Mann auf den Fotos, die ich
in Valentinas Zimmer gefunden habe – der Mann, der seinen Arm um ihre bloßen Schultern gelegt hat. Er ist zwar ein wenig älter
als auf den Fotos, aber er ist es.
»Bitte, sagen Sie doch etwas. Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
Schweigen. Dann erscheinen Mike und Papa in der Haustür. Mike reibt sich schläfrig die Augen. Jetzt tritt der Mann einen Schritt
vor, streckt die Hand aus und sagt ein einziges Wort:
»Dubov.«
»Ah! Dubov!« Vater eilt zu ihm hin, ergreift seine Hände |275| und sprudelt eine überschwängliche ukrainische Begrüßung heraus.
»Der hochgeschätzte Herr Direktor des Polytechnikums in Ternopil! Der berühmte Gelehrte aus der Ukraine! Seien Sie willkommen
in meiner bescheidenen Behausung!«
Tatsächlich – es ist Valentinas Ehemann, der intelligente Typ. Da mir das nun klar ist, erkenne ich auch die Ähnlichkeit mit
Stanislav: die gleichen dunkelbraunen Locken, die gleiche Statur und, als er jetzt aus dem Schatten hervorkommt, auch die
gleichen Grübchen beim Lächeln.
»Majevski! Der gefeierte Ingenieur! Es war mir eine Ehre, Ihre faszinierende Abhandlung über die Geschichte des Traktors zu
lesen, die Sie mir geschickt haben«, sagt er auf Ukrainisch und schüttelt wie wild Vaters Hände. Jetzt verstehe ich auch,
warum er mir auf meine Fragen nicht geantwortet hat. Er kann kein Englisch. Vater stellt uns vor.
»Michail Lewis, mein Schwiegersohn. Computer-Experte von hohem Ansehen und Gewerkschafter. Meine Tochter Nadeshda. Sie ist
Sozialarbeiterin.« (Papa! Wie kannst du nur!)
Bei einer Tasse Tee und einer Packung Kekse mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum, die ich in der Speisekammer gefunden habe,
erfahren wir nach und nach den Grund für den Besuch des mysteriösen Mannes. Einfach genug ist er: Er ist gekommen, um Frau
und Sohn ausfindig zu machen und sie in die Ukraine zurückzuholen. Die Briefe, die er aus England erhielt, haben ihn mehr
und mehr beunruhigt. Stanislav fühlt sich in seiner
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