Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
mich mal in Cambridge um. Dann sind Mike und ich nicht so weit fort und können dich öfter besuchen.«
»Hmm. Also gut.«
Er setzt sich in seinen Sessel am Fenster, lehnt den Kopf gegen das Kissen und schaut hinaus auf die länger werdenden Schatten
über den Feldern. Die Sonne ist schon verschwunden, aber ich ziehe die Vorhänge noch nicht zu. Dämmerung breitet sich im Zimmer
aus.
|326| 29.
Ein letztes Abendessen
Mike ist nicht da, als ich nach Hause komme, aber Anna ist daheim. Ich höre ihre helle Stimme am Telefon in der Diele, und
als ich sie so sprechen und lachen höre, zieht sich mir das Herz vor Liebe zusammen. Anna gegenüber habe ich sehr an mich
gehalten, um nicht zu viel über Vater und Valentina und Vera zu reden, und wenn wir doch darauf zu sprechen kamen, habe ich
zumindest unsere Unstimmigkeiten heruntergespielt. Ich will sie da heraushalten und beschützen, wie meine Eltern es bei mir
auch gemacht haben. Warum soll man ihr mit diesen unglückseligen Dingen das Leben schwer machen?
Ich ziehe die Schuhe aus, koche mir eine Tasse Tee, lege Musik auf und mache es mir mit einem Stapel Papiere auf dem Sofa
bequem. Höchste Zeit, einiges aufzuarbeiten. Aber dann klopft es an der Tür. Anna steckt den Kopf herein.
»Mama, hast du einen Moment Zeit?«
»Klar doch. Was gibt’s?«
Sie trägt hautenge Jeans und ein Top, das ihr kaum bis zur Taille reicht. (Warum zieht sie sich nur so an? Weiß sie denn nicht,
wie Männer reagieren?)
»Ich möchte mit dir reden, Mama.« Das klingt ernst.
Sofort bekomme ich Herzklopfen. War ich so sehr vom Drama meines Vaters in Anspruch genommen, dass ich darüber die eigene
Tochter vernachlässigt habe?
|327| »Dann schieß los. Ich bin ganz Ohr.«
»Mama«, sagt sie und setzt sich neben meine Füße aufs Sofa, »ich habe mit Alice und Alexandra gesprochen. Wir waren letzte
Woche zusammen Mittag essen. Das eben am Telefon war Alice.«
Alice, Veras jüngere Tochter, ist ein paar Jahre älter als Anna. Die Mädchen waren nie besonders eng miteinander. Das jetzt
ist neu. Es beunruhigt mich etwas.
»Das ist ja nett. Worüber habt ihr denn geredet?«
»Über dich und über Tante Vera.« Sie hält inne und schaut mir in die Augen. »Wir finden es nämlich ziemlich dumm – diese Fehde,
die ihr beiden da gegeneinander führt.«
»Was für eine Fehde meinst du?«, frage ich scheinheilig.
»Das weißt du doch ganz genau. Die Sache mit dem Geld und mit Großmamas Testament.«
»Ach«, lache ich, »warum habt ihr denn darüber geredet?« (Was fällt ihnen ein? Wer hat ihnen das erzählt? Sicher hat Vera
sich verplappert.)
»Wir finden es wirklich total dumm. Uns ist das Geld doch völlig egal. Uns ist egal, wer es bekommt. Wir wollen nur, dass
wir alle miteinander auskommen wie eine ganz normale Familie. Wir drei, Alice, Lexy und ich, kommen jedenfalls sehr gut miteinander
aus.«
»Schatz, es ist aber nicht ganz so einfach …« (Ist ihr denn nicht klar, dass Geld das Einzige ist, was uns vor dem Verhungern schützen kann?) »… und es geht auch nicht nur um Geld.« (Ist ihr nicht klar, dass alles durch die Vergangenheit und die Erinnerungen geprägt
wird? Dass eine Geschichte, die einmal auf eine Art erzählt worden ist, nicht mehr auf eine andere Art neu erzählt werden
kann? Ist ihr nicht klar, dass es Dinge gibt, die man besser vertuscht und begräbt, damit die Schande nicht auch noch auf
die nächste Generation übergeht? Nein, es ist ihr nicht klar. Sie ist jung, und für jemanden, der jung ist, ist alles möglich.) |328| »Aber ich denke, es könnte einen Versuch wert sein. Und was ist mit Vera? Sollte nicht irgendwer auch ihr etwas davon sagen?«
»Alice will morgen mit ihr reden. Und du, Mama, was hältst du davon?«
»Ich bin einverstanden.« Ich nehme sie in den Arm und drücke sie an mich. (Wie dünn sie ist!) »Ich werde mein Bestes tun.
Und du solltest mehr essen.«
Sie hat ja Recht. Es ist wirklich dumm.
Bei sämtlichen Einrichtungen für betreutes Wohnen in der Gegend um Cambridge gibt es Wartelisten, doch noch bevor ich beginne,
sie abzuklappern, bekomme ich einen Anruf.
»Dubov ist wieder da. Valentina mit dem Baby auch. Und Stanislav auch.« Vater klingt aufgekratzt. Vielleicht auch beunruhigt
– am Telefon schwer einzuschätzen.
»Papa, sie können aber nicht dableiben. Das ist doch lächerlich. Und überhaupt haben wir doch ausgemacht, dass du über betreutes
Wohnen nachdenken
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