Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
technisch unbegabt war.
Nach dem Essen macht Vater sein Schläfchen, und ich hole mir die Gartenschere und gehe in den Garten, um Rosen für Mutters
Grab abzuschneiden. Es hat geregnet, und nun riecht alles nach Erde und Wurzeln und fruchtbarem Wachstum – einem wilden, ungebändigten
Wachstum. Die rote Rose, die am Zaun zu den Nachbarn emporrankt, wird |57| von wilden Ackerwinden fast erstickt, und wo einmal Dill und Petersilie wuchsen, haben sich Brennnesseln breit gemacht. Die
Lavendelbüsche, die Mutter am Pfad entlang pflanzte, sind hoch aufgeschossen und ausgewachsen. Im Blumenbeet haben sich Weidenschösslinge
zwischen den braun eingetrockneten Samenkapseln von Klatschmohn und Akelei ausgesät. Alles scheint nach Mutters dunkler Bitterschokolade
zu gieren. Ach, würde sie seufzen, in einem Garten ist ständig etwas zu tun. Das eine will wachsen, das andere muss zurückgeschnitten
werden, man kann keine Minute die Hände in den Schoß legen.
Auch auf dem Friedhof gehen Leben und Sterben Hand in Hand. Ein getigerter Kater hat hier sein Gebiet markiert und streicht
nun an der Hecke entlang, die das Areal zu den Feldern hin abgrenzt. Fette Drosseln picken auf einem frisch aufgeschütteten
Grab nach Würmern. Fünf neue Gräber sind seit Mutters Tod dazugekommen; fünf andere Menschen aus dem Dorf sind inzwischen
gestorben. Ich lese die Inschriften auf den Grabsteinen.
Unsere über alles geliebte Mutter … aus dem Leben geschieden … zu Gott dem Herrn … Ruhe in Frieden … in Ewigkeit …
Außer den Totengräbern hat sich auch ein Maulwurf ans Werk gemacht und hier und da kleine Hügel aufgeworfen. Einer ist mitten
auf Mutters Grab. Der Gedanke, dass der kleine schwarze Kerl sich da unten im Dunkeln an sie kuschelt, gefällt mir. Bei ihrer
Beerdigung sagte der Pfarrer, sie sei jetzt im Himmel, doch sie hatte sehr genau gewusst, dass sie hier in die Erde kommen
und von den Würmern zerfressen werden würde. (Tu nie einem Wurm etwas zuleide, Nadeshda. Der Wurm ist der Freund des Gärtners.)
Mutter wusste Bescheid über Leben und Tod. Einmal brachte sie vom Markt ein totes Kaninchen mit nach Hause |58| , häutete es und nahm es auf dem Küchentisch aus. Sie holte die blutigroten Innereien heraus, schob ihm einen Strohhalm durch
die Luftröhre und blies seine Lungen auf. Mit großen Augen beobachtete ich, wie die Lungen auf und ab gingen.
»Siehst du, Nadeshda, so atmen wir. Wenn wir atmen, leben wir.«
Ein anderes Mal brachte sie ein lebendes Huhn mit. Sie trug es nach hinten in den Garten, setzte sich, hielt es zwischen den
Knien fest, als es versuchte sich freizumachen, und drehte ihm mit einem schnellen, leichten Ruck den Hals um. Das Huhn zuckte
noch einmal, dann lag es still.
»Siehst du, Nadeshda, so ist es, wenn wir sterben.«
Das Kaninchen und das Huhn wurden mit Knoblauch, Schalotten und Kräutern aus dem Garten gebraten, und als das Fleisch aufgegessen
war, nahm sie die Knochen und kochte sie noch zu Suppe aus. Nichts wurde verschwendet.
Ich sitze auf der Bank unter dem Holzapfelbaum und versuche, mich durch meine Erinnerungsbilder hindurchzufinden, doch je
länger ich sie betrachte, desto weniger weiß ich, ob es sich dabei tatsächlich um meine Erinnerungen handelt oder nicht vielmehr
nur um Geschichten, die mir erzählt wurden. Als ich klein war, hat Mutter mir häufig Familiengeschichten erzählt, allerdings
nur solche, die gut ausgingen. Auch meine Schwester hat mir Geschichten erzählt, sehr formelhafte Geschichten mit guten Menschen
(Mutter, die Kosaken) und bösen Menschen (Vater, die Kommunisten). Veras Geschichten hatten immer einen Anfang, eine Mitte,
ein Ende und eine Moral. Manchmal erzählte mir auch Vater Geschichten, aber die seinen waren sehr kompliziert gestrickt, zweideutig
und ohne befriedigenden Ausgang, mit langen Exkursen und voller unverständlicher |59| Fakten. Mutters und Veras Geschichten waren mir lieber.
Auch ich kann eine Geschichte erzählen: Es war einmal eine Familie – das waren wir, Mutter, Vater, meine Schwester und ich.
Es war keine besonders glückliche oder besonders unglückliche Familie, nur eine, die sich durchwurstelte, während die Kinder
heranwuchsen und die Eltern alterten. Es gab eine Zeit, als meine Schwester und ich uns liebten, und auch Vater und ich liebten
uns. Vielleicht hat es sogar eine Zeit gegeben, als mein Vater und meine Schwester sich liebten, aber daran
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