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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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anders. Ich beschwöre den Geist meiner großen
     Schwester herauf: »Papa, hast du Vera schon von dieser Geschichte mit Bob Turner erzählt? Ich kann mir vorstellen, dass sie
     sehr aufgebracht wäre, wenn sie das hören würde.«
    »Warum sollte ich mit ihr darüber reden? Das geht sie überhaupt nichts an.« Sein Blick kommt wieder zurück. Sein Kinn zuckt.
     Er bekommt Angst.
    »Weil Vera sich auch Sorgen macht. Wir haben doch beide Mutter versprochen, uns um dich zu kümmern.«
    »Sie wird sich höchstens darum kümmern, mich unter die Erde zu bringen.«
    Er hustet so heftig, dass kleine Karottenstückchen aus seinem Mund bis an die Wand spritzen. Ich hole ihm ein Glas Wasser.
    In dem Schattenreich meiner Kindheit, in dem meine Schwester die Königin war, war Vater der vertriebene Herrscher. Vor langer
     Zeit hatten sie Krieg gegeneinander geführt. Es war schon so lange her, dass ich gar nicht mehr weiß, aus welchem Anlass sie
     aneinander gerieten, und vermutlich wissen sie selbst es auch nicht mehr. Vater begab sich auf taktischen Rückzug ins Reich
     seiner Garage, zu seinen Konstruktionen aus Aluminium, Gummi und Holz, zu seiner Husterei und seinen großen Plänen. Von Zeit
     zu Zeit |55| rückte er zu einem Scharmützel gegen meine Schwester aus und, nachdem sie ausgezogen war, auch gegen mich.
    »Papa, warum machst du Vera andauernd schlecht? Warum müsst ihr zwei ständig streiten? Warum   …?«
    Ich will sagen »Warum hasst ihr euch so«, aber ich schlucke es hinunter. Es klingt zu hart, zu unwiderruflich. Vater fängt
     wieder an zu husten.
    »Du kennst diese Vera doch   … Sie hat einen schlechten Charakter. Du hättest sehen sollen, wie sie Ludmilla gequält hat – du musst alles deinen Enkelinnen
     vererben, du musst dein Testament ändern   … Ständig, sogar als Milla schon im Sterben lag. Vera denkt immer nur ans Geld. Und jetzt will sie, dass ich mein Testament
     genauso mache, ich soll alles dreiteilen für eure Töchter. Aber ich habe nein gesagt. Was meinst du denn, was ich tun soll?«
    »Vermach es uns halbe-halbe«, sage ich. Mehr nicht. Ich habe keine Lust, mich von ihm da mit hineinziehen zu lassen.
    Ha! Heißt das etwa, dass meine große Schwester schon wieder wegen ihres Erbteils intrigiert, obwohl ohnehin nichts mehr zum
     Aufteilen da ist außer dem Haus und Papas Pensions-Fonds? Ich weiß nicht, ob ich ihm das abnehmen soll. Ich weiß überhaupt
     nicht, was ich glauben soll. Ich ahne nur, dass früher irgendwann einmal etwas sehr Schlimmes passiert ist, etwas, worüber
     niemand mit mir sprechen will, weil ich trotz meiner inzwischen weit über vierzig Jahre für alle immer noch die Kleine bin
     – das Kind, das so etwas nicht versteht. Zwar glaube ich ihm, was er sagt über die Art und Weise, wie Vera zu der Testamentsänderung
     gekommen ist. Aber jetzt geht es um etwas anderes, jetzt versucht er mich auf seine Seite zu ziehen und mich gegen meine Schwester
     auszuspielen.
    »Was hältst du davon, wenn ich in meinem Testament schreibe, dass ich im Falle meines Todes alles dir und Michael vermache?«,
     fragt er plötzlich.
    |56| »Nein, Papa – ich finde, du solltest es bei halbe-halbe lassen.«
    »Wenn du meinst.« Er seufzt verdrießlich, weil ich nicht mitspielen will.
    Insgeheim freut es mich natürlich, dass ich diejenige bin, die bevorzugt werden soll, aber ich bin lieber vorsichtig. Er ist
     zu unberechenbar. Einst, vor langer Zeit, war ich Papas Liebling, sein Pfadfinder- und Ingenieur-Lehrling. Ich versuche mir
     die Dinge ins Gedächtnis zu rufen, deretwegen ich ihn einmal geliebt habe.
    Es gab eine Zeit, da setzte er mich hinten auf sein Motorrad – »Fahr vorsichtig, Koljusha!«, rief Mutter immer – und dann
     preschten wir auf den schnurgeraden schmalen Straßen durchs Marschland. Sein erstes Motorrad war eine Francis Barnett 250   Kubik, die er vom Schrott geholt und selbst Stück für Stück auseinander genommen, gereinigt, repariert und wieder zusammengebaut
     hatte. Nach ihr kam eine schwarz glänzende 350er Vincent, dann eine 500er Norton. Diese Namen sagte ich damals wie ein Mantra
     vor mich hin. Ich weiß noch, wie ich immer ans Fenster rannte, sobald ich vom Ende der Straße her das tiefe Motorengebrumm
     vernahm, und dann stand er im Zimmer, ganz zerzaust, mit seiner Schutzbrille und seinem alten russischen Fliegerhelm aus Leder,
     und fragte: »Wer will mitfahren?«
    »Ich! Ich! Nimm mich mit!«
    Aber das war, bevor er herausfand, dass ich

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