Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
beim Essen auf der Zunge zergingen.
    »Als der Bürgerkrieg zu Ende war, floh Otscheretko in die Türkei. Aber Sonias Bruder Pavel – übrigens auch ein bemerkenswerter
     Typ, Eisenbahningenieur, der die erste Eisenbahnlinie zwischen Kiew und Odessa gebaut hat – war ein Freund von Lenin. Deshalb
     gab es ein paar Briefe hin und her, und dann wurde Mitrofan Otscheretko amnestiert und rehabilitiert und bekam eine Stellung
     an der Militärakademie in Kiew, wo er Degenfechten unterrichtete. Und in Kiew haben Ludmilla und ich uns dann kennen gelernt.«
    Seine Stimme klingt brüchig.
    »Kommt ihr? Papa, Mike – das Essen ist fertig!«
     
    Die Zeit zwischen Valentinas Rückkehr in die Ukraine und ihrer neuerlichen Ankunft in England war für meinen Vater eine Zeit
     großer persönlicher Weiterentwicklung und intellektueller Aktivität, in der er wieder begann, Gedichte zu produzieren und
     sie in seiner krakeligen kyrillischen Handschrift festzuhalten. Ich entzifferte ein paarmal das Wort »Liebe«, konnte mich
     jedoch nicht dazu aufraffen, sie ganz zu lesen.
    Jede Woche schrieb er Valentina einen Brief, und dazwischen rief er sie an, um sich mit ihr oder auch mit ihrem intelligenten
     Mann zu unterhalten. Ich weiß, dass diese Gespräche nicht eben kurz waren, denn ich sah die Telefonrechnungen. Doch meiner
     Schwester und mir gegenüber hielt er sich bedeckt. Er wollte nicht, dass wir ihm sagten, was er zu tun oder zu lassen hatte.
     Er hatte seinen Entschluss bereits gefasst.
     
    |66| Vera fuhr im September zu ihm. Was sie hinterher darüber berichtete, klang folgendermaßen: »Das Haus ist verdreckt. Anstelle
     von Tellern benutzt er Zeitungspapier. Und er isst ausschließlich Äpfel. Ich habe versucht, ihn zu überreden, sich in einem
     Heim für betreutes Wohnen anzumelden, aber er sagt, du habest ihm davon abgeraten. Ich habe keine Ahnung, Nadeshda, was du
     dir davon versprichst. Ich nehme an, du fürchtest, du würdest dein Erbteil nicht bekommen, wenn er das Haus verkauft. Ich
     muss sagen, dein Tick geht wirklich zu weit. Das Haus ist doch für ihn allein jetzt viel zu groß. Ich wollte ihm eine Haushaltshilfe
     organisieren, aber auch das hat er abgelehnt. Und was diese andere Geschichte angeht – ich habe versucht herauszufinden, ob
     mit diesem Flittchen noch etwas läuft, aber er weigert sich, darüber zu sprechen. Er wechselt einfach das Thema. Ich weiß
     wirklich nicht, was mit ihm los ist. Er verhält sich reichlich seltsam. Findest du nicht auch, dass wir einen Arzt suchen
     sollten, der ihn für unzurechnungsfähig erklärt? Er scheint in einer völlig eigenen Welt zu leben   …« Ich hielt den Hörer von mir weg und ließ sie weiterquasseln.
     
    Tags darauf rief Vater mich an und beschrieb mir Veras Besuch aus seiner Sicht. »Als ich ihren Wagen in der Einfahrt sah und
     sie ausstieg und aufs Haus zukam, Nadeshda, kannst du dir vorstellen, was da passiert ist? Ich habe mir in die Hosen gemacht.«
     Er sagte es in einem Ton, als seien seine Gedärme nichts, was zu ihm gehörte, sondern eine geheimnisvolle Naturgewalt. »Weißt
     du, Vera ist eine schreckliche Autokratin. Ein Tyrann. Wie Stalin. Ständig nörgelt sie an mir herum. Tu dies – tu jenes. Warum
     soll ich immer nur machen, was andere wollen? Kann ich denn nicht selbst entscheiden, was ich tun will? Jetzt sagt sie, ich
     muss in ein betreutes Wohnen. Ich kann mir betreutes Wohnen |67| aber nicht leisten. Das ist mir zu teuer. Ich bleibe lieber hier. Lebe hier, sterbe hier. Sag ihr, dass ich dir das gesagt
     habe. Sag ihr, dass ich nicht will, dass sie noch einmal zu mir kommt. Ihr zwei schon, du und Michael.«
     
    Als Mike und ich ihn das nächste Mal besuchen, finden wir alles ziemlich genau so vor, wie Vera es geschildert hat. Ein dünner
     grauer Staubschleier hat sich über die einst weißen Wände gelegt und auch in den Spinnweben an den Decken festgesetzt. Das
     Wohnzimmer ist ein einziges Fallobstlager, weil Vater alle Äpfel, die er draußen aufgesammelt hat, in flachen Kisten und Kartons
     überall auf Tischen und Stühlen, auf der Kommode und sogar oben auf dem Schrank deponiert hat. Man riecht es im ganzen Haus.
     Wolken von Fruchtfliegen schwärmen über James Grieve und Jonathan, von denen einige schon braun werden und dicke Flecken aufweisen,
     die Vater in seiner Kurzsichtigkeit nicht wahrnimmt. Er sitzt mit einem kleinen Küchenmesser in der Hand am Tisch und schält
     und schnitzelt sie zu Toshiba-Häufchen

Weitere Kostenlose Bücher