Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
noch die Talente ihres außerordentlich
begabten Sohnes fördern.
Denn Stanislav, vierzehn, wurde einem Psychologen vorgestellt, der gegen eine bescheidene – von meinem Vater entrichtete –
Gebühr seinen IQ testete und ihm schriftlich bescheinigte, ein Genie zu sein. Dieses Papier verhalf dem guten Jungen (»Übrigens
auch ein talentierter Musiker, spielt Klavier!«) zu einem Platz in einer renommierten Privatschule in Peterborough. (Er ist
natürlich viel zu klug für die örtliche Gesamtschule, in die nur das Landvolk seine Kinder schickt.)
Meine große Schwester, die gutes Geld dafür bezahlen musste, ihre ebenfalls außerordentlich begabten Töchter auf eine piekfeine
Schule zu schicken, ist empört. Ich, die ich meine nicht minder außerordentlich begabte Tochter auf die örtliche Gesamtschule
gehen ließ, bin es auch. Unsere |74| Empörung sprudelt nur so durch die Telefonleitung. Endlich haben wir etwas gemeinsam.
Dazu kommt noch, dass eine Heirat, wie schon Romeo und Julia schmerzhaft erfahren mussten, nie nur die beiden Liebenden betrifft,
sondern auch ihre Familien. Vera und ich wollen Valentina nicht in unserer Familie haben.
»Seien wir doch ehrlich«, sagt Vera, »wir wollen nicht, dass eine so
gewöhnliche
Person« (ihre Worte, nicht meine!) »unseren Namen trägt.«
»Ach komm, Vera, unsere Familie ist doch auch nichts Besonderes. Wir sind eine ganz gewöhnliche Familie wie andere auch.«
Damit rühre ich an ihr Selbstverständnis als selbsternannte Hüterin unserer Familiengeschichte. Das mag sie gar nicht.
»Wir kommen aus bürgerlichen Verhältnissen, Nadeshda. Wir sind keine Emporkömmlinge.«
»Aber was waren denn die Otscheretkos? Bauern …«
»Gutsbesitzer.«
»… und Pferdehändler.«
»
Pferdezüchter
.«
»Jedenfalls Kosaken. Ein wenig wild vermutlich …«
»Lebensfroh.«
»Und die Majevskis waren Lehrer.«
»Großvater Majevski war Bildungsminister.«
»Aber nur ein halbes Jahr lang. Und in einem Land, das es eigentlich gar nicht gab.«
»Aber natürlich gab es die Freie Ukraine. Wirklich, Nadia, warum musst du immer alles so heruntermachen? Findest du das angebracht?«
»Nein, aber …« (Genau das finde ich selbstverständlich.)
»Als ich klein war …« Ihre Stimme wird weicher. Ich höre, wie sie nach einer Zigarette greift. »Als ich klein war, hat Baba Sonia mir oft von
ihrer Hochzeit erzählt.
So
sollte |75| eine Hochzeit sein, nicht so eine jämmerliche Scharade wie die, in die unser Vater da jetzt hineingezogen wird.«
»Aber schau dir mal die Daten an, Vera. Die Braut war schon im vierten Monat.«
»Sie haben sich eben geliebt.«
Wie bitte? Ist meine große Schwester etwa eine heimliche Romantikerin?
Sonia Blashko, Mutters Mutter, war achtzehn, als sie Mitrofan Otscheretko in Kiew in der großen Goldkuppelkathedrale des Heiligen
Michael ihr Jawort gab. Sie trug ein weißes Kleid, einen Schleier, um den Hals eine Kette mit einem hübschen goldenen Medaillon
und auf dem langen braunen Haar einen Kranz weißer Blumen. Ungeachtet ihrer zierlichen Erscheinung dürfte kaum zu übersehen
gewesen sein, dass sie schwanger war. Ihr ältester Bruder, Pavel Blashko, der Eisenbahningenieur und spätere Freund Lenins,
stand ihr zur Seite, denn ihr Vater war schon zu gebrechlich, um die ganze Trauungszeremonie hindurch stehen zu können. Shura,
Sonias ältere Schwester, die vor kurzem ihre Doktorprüfung abgelegt hatte, war Brautjungfer. Die zwei kleineren Schwestern,
die noch zur Schule gingen, ließen Rosenblätter über sie regnen und brachen in Tränen aus, als sie den Bräutigam küsste.
Die Otscheretko-Männer kamen in Reitstiefeln zur Kirche, mit bestickten Hemden und seltsam gebauschten Hosen. Die Frauen trugen
weit schwingende Röcke, Stiefel mit kleinen Absätzen und im Haar bunte Bänder. Sie standen ganz hinten in der Kirche beisammen
und drängelten sich sofort nach Ende der Feier wieder ins Freie, ohne dem Priester einen Obolus zu entrichten.
Die Blashkos sahen auf die Verwandtschaft des Bräutigams herab, sie hielten sie für ungehobelt, für eine Art besserer Straßenräuber,
die zu viel tranken und sich nie kämmten |76| . Die Otscheretkos wiederum sahen in den Blashkos zimperliche Städter und Landesverräter. Sonia und Mitrofan scherten sich
nicht darum, was ihre Eltern voneinander hielten. Sie hatten ihre Liebe bereits vollzogen und bewiesen, dass sie fruchtbar
war.
»Sie wurde
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