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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Sonia und die drei Kinder   – Ludmilla, meine Mutter, hatte inzwischen eine Schwester und einen kleinen Bruder bekommen – zurück nach Poltawa, quartierte
     sie im Dorf in einem baufälligen Holzhäuschen ein und machte sich wieder auf den Weg, um die aufständische ukrainische republikanische
     Nationalarmee zu unterstützen. Es galt die Gunst der Stunde zu nutzen, denn jetzt, da Russland damit beschäftigt war, sich
     selbst zu zerfleischen, hatte die Ukraine vielleicht die Möglichkeit, sich vom russischen Joch zu befreien.
    Ludmilla bekam ihren Vater in diesen Jahren kaum zu |63| Gesicht. Mitunter tauchte er erschöpft und ausgehungert mitten in der Nacht auf und war am nächsten Morgen schon wieder verschwunden.
     »Sagt niemandem, dass Papa hier war«, flüsterte die Mutter den Kindern ins Ohr.
    Der Bürgerkrieg war eine schauerliche Abfolge blutiger Massaker und Vergeltungsschläge. Jede Menschlichkeit schien ausgerottet.
     Keine Stadt, nicht einmal das kleinste Dorf, keine einzige Familie blieb verschont. Die Geschichtsbücher erzählen von raffinierten
     neuen Methoden, mit denen Menschen langsam zu Tode gequält wurden. Von Blutgier getrieben, setzten Menschen all ihren Einfallsreichtum
     und ihre Fantasie dazu ein, Folterqualen zu erfinden, die sich zuvor niemand auch nur im Traum hätte ausdenken können. Aus
     Nachbarn wurden Feinde, für die bloßes Erschießen viel zu barmherzig schien.
    Doch meine Eltern haben nie von diesen Schrecken erzählt, denn ich war ihr über alles geliebtes, kostbares Kind des Friedens.
    Wenn Mutter ihre frühe Kindheit schilderte, war immer alles pure Idylle: die langen Sommer, die heiße Sonne, wenn sie barfuß
     über die Felder liefen und nackt in der Sula badeten oder ihre Kuh auf eine ferne Weide führten und von morgens bis abends
     im Freien waren. Ohne Schuhe, ohne Hosen, ohne irgendjemanden, der ihnen sagte, was sie zu tun oder zu lassen hatten. Und
     das Gras war so hoch, dass man sich darin verstecken konnte, und so wundervoll grün mit roten und gelben Blumen dazwischen.
     Und der Himmel endlos blau und die Kornfelder wie riesige Laken aus Gold, so weit das Auge reichte. Nur manchmal hörten sie
     in der Ferne Schüsse und sahen Rauch von einem brennenden Haus aufsteigen.
     
    Vater hat sich vor der Landkarte der Ukraine aufgebaut und hält für sein Ein-Mann-Auditorium Mike eine zweistündige |64| Vorlesung über ukrainische Geschichte, Politik, Kultur, Wirtschaft, Landwirtschaft und Flugzeugbau.
    Sein Zuhörer sitzt bequem im Sessel vor der Landkarte, doch seine Augen fixieren irgendeinen Punkt hinter Vaters Kopf. Seine
     Wangen sind ziemlich gerötet. In der Hand hält er ein Glas von Mutters selbstgemachtem Pflaumenwein.
    »Es wird häufig vergessen, dass der Bürgerkrieg mehr war als nur eine Angelegenheit zwischen Weißen und Roten. Tatsache aber
     ist, dass sich nicht weniger als vier ausländische Armeen im Kampf um die Kontrolle über die Ukraine befanden, nämlich die
     Rote Armee der Sowjets, die russische Weiße Armee der Kaiserlichen, die polnischen Truppen, die die Zeichen der Zeit für eine
     Invasion nutzen wollten, und das deutsche Heer, das die Marionettenregierung von Skoropadski unterstützte.«
    Während ich in der Küche Gemüse für die Suppe klein schneide, höre ich mit halbem Ohr zu.
    »Die Ukrainer wurden von früheren Kosakenhetmanen angeführt oder hatten sich unter dem Anarchistenbanner von Machno zusammengefunden.
     Was sie wollten, war so einfach wie unmöglich: die Ukraine von sämtlichen Besatzungsmächten befreien.«
    Das Geheimnis von Mutters berühmter Suppe war viel Salz (sie litten alle beide an Bluthochdruck), ein großes Stück Butter
     (über Cholesterin machten sie sich keine Gedanken) und Gemüse, Knoblauch und Kräuter aus dem Garten. Solche Suppen kann ich
     nicht kochen.
    »Nadeshdas Großvater Mitrofan Otscheretko schloss sich einer Truppe unter der Führung von Hetman Tjutjunik an, der ihn zum
     zweiten Befehlshaber machte. Sie kämpften in lockerer Allianz mit dem ›Ukrainischen Direktorium‹ von Simon Petljura. Otscheretko
     war übrigens ein bemerkenswerter Typ mit großem Schnauzbart und Augen |65| wie Kohle. Ich habe Bilder von ihm gesehen, ihn aber natürlich nicht mehr selbst kennen gelernt.«
    Wenn die Suppe köchelte, ließ Mutter teelöffelweise Galuschki hineinfallen – eine Mischung aus rohen Eiern und Grieß, Salz
     und Kräutern   –, die als Klößchen wieder an die Oberfläche traten und

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