Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
denn so nannte man anfangs die Traktoren. Diese ersten Traktoren waren noch ganz primitiv gebaut, funktionierten
nicht sehr zuverlässig, hatten nur schiefe Eisenräder ohne Bereifung, konnten aber trotzdem die Arbeit von zwanzig Menschen
leisten.
Die Einführung des Traktors war auch von symbolischer Bedeutung, denn nun war es möglich, die ehemaligen Grenzstreifen, die
die kleinen Höfe voneinander abgetrennt hatten, unterzupflügen, um alle zu großen Kolchosen zusammenzuschließen. Damit war
das Ende der Kulaken besiegelt, jener Bauern, die eigenes Land besessen hatten und die Stalin als Feinde der Revolution betrachtete.
Das eiserne Pferd zerstörte die traditionellen Dorfstrukturen und die dörfliche Lebensweise, aber die Traktorenindustrie florierte
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. Nichtsdestotrotz arbeiteten die Kolchosen nicht effizient, was größtenteils auf den Widerstand der Bauern zurückzuführen
ist, die sich entweder weigerten, sich an den Kolchosen zu beteiligen, oder einfach weiterhin auch ihre eigenen Grundstücke
bewirtschafteten.
Stalin zahlte es ihnen auf grausame Art und Weise heim. Die Waffe, die er einsetzte, hieß Hunger. 1932 ließ er die gesamte
Ernte der Ukraine beschlagnahmen und nach Moskau und Leningrad transportieren, um sie dort ans Proletariat zu verteilen. Wie
sonst hätte die Revolution bei Kräften gehalten werden sollen? Ukrainische Butter und ukrainisches Getreide wurden in Paris
und Berlin zum Kauf angeboten, und wohlmeinende westliche Bürger bestaunten dieses Wunder sowjetischer Produktivität. Doch
in den ukrainischen Dörfern starben die Menschen.
Das ist die große, lange totgeschwiegene Tragödie in der Geschichte unseres Landes, die erst jetzt allmählich ans Licht kommt.
Er bricht ab und sammelt schweigend seine Blätter wieder zusammen. Die Brille ist ihm die Nase hinabgerutscht, seine Brillengläser
sind so dick, dass ich kaum seine Augen dahinter erkennen kann, doch ich möchte schwören, sie sind voller Tränen. In der nun
herrschenden Stille höre ich im Zimmer nebenan Valentina immer noch am Telefon schnattern und von oben aus Stanislavs Zimmer
leise Musik. In der Ferne schlägt eine Kirchturmuhr siebenmal.
»Sehr gut, Nikolai.« Mike klatscht Beifall. »Stalin hatte wirklich eine Menge auf dem Kerbholz.«
»Sehr gut, Papa.« Mein Beifall kommt allerdings etwas zögernder als Mikes Lob. Dieser ukrainische Nationalismus geht mir auf
die Nerven, er kommt mir so überholt und irrelevant vor. Bauern auf dem Feld, Volkslieder bei der Ernte, das Vaterland – was
hat das mit mir zu tun? Ich |96| bin eine Frau der Postmoderne. Ich weiß über Strukturalismus Bescheid. Ich bin mit einem Mann verheiratet, der Polenta kocht.
Aber warum berührt mich das Ganze nun trotzdem so?
Die Hintertür klappt. Anna ist wieder da. Valentina beendet ihr Telefongespräch und schlüpft zu uns herein, um auch Beifall
zu spenden, wobei sie ihre Hände mit den lackierten Nägeln sanft aneinander schlägt. Sie lächelt zufrieden, als sei dieses
literarische Meisterstück auf ihrem Mist gewachsen, und küsst Papa auf die Nase. »Golubtschik!« Mein Täubchen. Vater strahlt.
Dann ist es Zeit für uns, uns auf den Heimweg zu machen. Wir schütteln einander die Hände und hauchen uns gegenseitig nicht
ganz überzeugende Küsschen auf die Wangen. Unser Besuch wird offensichtlich als Erfolg betrachtet.
»Und wie ist sie?«, will meine große Schwester am Telefon wissen.
Ich beschreibe Minirock, Haar, Make-up. So neutral und ruhig wie möglich.
»Mein Gott! Ich hab’s doch geahnt!«, ruft Vera aus.
(Wie ich diesen Zicken-Tratsch genieße. Was ist bloß los mit mir? Ich war doch einmal Feministin. Aber jetzt scheine ich mich
in ein gehässiges Waschweib zu verwandeln.) Ich erzähle ihr von den Gummihandschuhen und den pfirsichfarbenen Fingernägeln.
»Oh ja – ich sehe alles ganz genau vor mir.« Veras Stimme überschlägt sich vor Wut. Unsere Mutter hatte braune, raue Hände
von der Gartenarbeit und vom Kochen. »Ich weiß genau, was das für eine ist. Er hat eine Nutte geheiratet.« (
Ich
habe das nicht gesagt!)
»Aber Vera, du kannst doch nicht Leute danach beurteilen, wie sie sich anziehen.« (Ha! Bin ich nicht vernünftig und abgeklärt?)
»Und überhaupt hat diese Art von Kleidung |97| in der Ukraine eine ganz andere Bedeutung. Dort grenzt man sich damit von seiner bäuerlichen Vergangenheit ab.«
»Sag mal – bist du so naiv oder tust du nur
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