Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
die anderen ihn dann
hänseln, er erzählt, dass er am Samstag auf einer Party war und dass sein Freund Gary jetzt ein kleines Hündchen hat. Seine
Stimme klingt zutraulich, angenehm melodisch, sein Akzent ist entzückend. Er ist absolut locker. Niemand sonst sagt etwas.
Das Gewicht all der unausgesprochenen Dinge liegt bedrückend wie eine Gewitterwolke über uns. Draußen fallen tatsächlich ein
paar Regentropfen, und in der Ferne donnert es. Vater steht auf und schließt das Fenster. Stanislav plappert munter weiter.
Als wir mit dem Tee fertig sind, trage ich die Tassen in die Küche zum Spülbecken, um sie abzuwaschen, doch Valentina schiebt
mich beiseite. Sie zieht Gummihandschuhe über ihre dicken Finger mit den lackierten Nägeln, bindet sich eine mit Rüschen besetzte
Schürze um und rührt den Seifenschaum im Becken auf.
»Ich mache«, sagt sie, »du gehen.«
»Wir gehen zum Friedhof«, verkündet mein Vater.
»Ich komme mit«, sagt Stanislav.
»Nein, Stanislav, bitte – bleib hier und hilf deiner Mutter.«
Sonst erzählt er uns als Nächstes noch von seinen Lieblingsfriedhöfen.
Als wir wieder zurück sind, trinken wir noch einmal Tee. Und schon ist es Zeit zum Abendessen. Vater sagt, Valentina wird
uns etwas kochen, sie sei eine gute Köchin. Wir sitzen um den Tisch herum und warten. Stanislav erzählt uns von einem Fußballspiel,
bei dem er zwei Tore geschossen hat. Mike, Anna und ich lächeln höflich. Vater strahlt vor Stolz. Valentina hat wieder ihre
Rüschenschürze um und ist in der Küche beschäftigt. Sie wärmt sechs Portionen Tiefkühl-Fertiggerichte auf – Braten mit Soße,
Kartoffeln und Erbsen –, die sie mit Schwung vor uns auf den Tisch stellt. |93| Wir essen schweigend. Es ist so still, dass man die Messer auf den Tellern kratzen hört, als wir das zähe wieder aufgewärmte
Fleisch bearbeiten. Sogar Stanislav hält ein paar Minuten lang den Mund. Als Vater sich an die Erbsen macht, fängt er an zu
husten, weil die Schalen seine Kehle reizen. Ich gieße ihm ein Glas Wasser ein.
»Köstlich«, sagt Mike mit einem Blick in die Runde. Wir murmeln beifällig. Valentina strahlt triumphierend.
»Ich modern mit Kochen, nicht wie Bauern.«
Zum Dessert holt sie Himbeereis aus der Gefriertruhe.
»Das ist mein Lieblingseis«, sagt Stanislav, und dann erklärt er uns seine Prioritätenliste bei Eissorten.
Vater hat nach längerem Herumwühlen einen Stapel Papier aus einer Schublade zutage gefördert, den er uns jetzt präsentiert.
Es ist das zuletzt geschriebene Kapitel seines Buches, bei dem ich ihm bei der Übersetzung zur Hand gegangen bin. Er möchte
es Mike vorlesen. Und Valentina und Stanislav.
»Da könnt ihr etwas über die Geschichte unseres geliebten Vaterlandes dazulernen.«
Aber weil Stanislav plötzlich einfällt, dass er unbedingt noch Hausaufgaben machen muss, Anna ins Dorf gegangen ist, um Milch
zu kaufen, und Valentina nebenan am Telefon festgehalten wird, sitzen letztlich nur Mike und ich bei Vater im Wohnzimmer mit
den großen Fenstern.
Dem Traktor kam in der Geschichte der Ukraine eine widersprüchliche Rolle zu. In früheren Zeiten war die Ukraine ein Land
von Kleinbauern. Damit ein solches Land seine Landwirtschaft voll zur Entfaltung bringen kann, ist Mechanisierung unverzichtbar.
Doch die Art und Weise, wie diese Mechanisierung eingeführt wurde, war wahrlich entsetzlich.
|94| Während er liest, wird seine Stimme immer gewichtiger, als schleppe er alle ungeschriebenen und unausgesprochenen Worte in
denen, die er uns vorliest, mit.
Nach der Revolution von 1917 begann Russland sich zu einem industrialisierten Land mit einem stetig wachsenden städtischen
Proletariat zu entwickeln. Dieses Proletariat sollte aus den Reihen der Landbevölkerung rekrutiert werden. Aber wie sollten
die Menschen in den Städten ernährt werden, wenn die Landbevölkerung auch in die Städte zog?
Stalins Antwort auf dieses Dilemma war, dass er per Dekret anordnete, auch das Land zu industrialisieren. Deshalb wurden die
kleinen Höfe abgeschafft, zu großen Einheiten zusammengelegt und wie Fabriken organisiert. Diese großen Einheiten nannte man
Kolchosen, was so viel bedeutet wie kollektive Bewirtschaftung. Nirgendwo sonst kam das Kolchosenprinzip so rigoros zur Durchsetzung
wie in der Ukraine. Wo die Bauern zuvor mit Pferden und Ochsen gepflügt hatten, wurde in den Kolchosen nun mit dem eisernen
Pferd gepflügt,
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