Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
nebeneinander auf und legt ein Buch darauf. »Die einen haben
     den Stein angeschoben, und die anderen mussten dann den letzten Stamm, sobald der Stein über ihn hinaus war, von hinten nach
     vorn schleppen und ihn dort wieder anlegen. Bei der Raupenkette wird diese Bewegung der Rollen durch Ketten und Gelenkverbindungen
     erzeugt.«
    Papa, Anna und Mike schieben abwechselnd das Buch über die Bleistifte vorwärts und legen den letzten Bleistift wieder vorn
     in die Reihe, schneller und immer schneller.
    Ich gehe in die Küche und stelle Teetassen auf ein Tablett, gieße Milch in ein Kännchen und suche nach Keksen. Wo ist sie
     denn nun? Ist sie zu Hause? Versteckt sie sich etwa immer noch vor uns? Dann sehe ich sie – eine große blonde |90| Frau draußen im Garten, die auf hohen, zehenfreien Pantoletten herangeschlendert kommt. In der Art, wie sie geht, liegt etwas
     Träges, Verächtliches, als koste es sie große Überwindung, sich herabzulassen, uns begrüßen zu kommen. Ein kurzes Jeans-Miniröckchen
     lässt sehr viel Oberschenkel sehen, ein pinkfarbenes ärmelloses Top spannt sich um üppige Brüste, die beim Gehen auf und nieder
     wippen. Ich starre sie an. So viel zur Schau gestelltes weiches rundliches Fleisch, hart an der Grenze zu dem, was man als
     fett bezeichnen könnte. Als sie näher kommt, sehe ich, dass ihr Haar, das ihr à la Brigitte Bardot in einem zerzausten Pferdeschwanz
     auf die nackten Schultern hängt, gebleicht ist und ein paar Zentimeter dunklen Haaransatz erkennen lässt. Ein breites, hübsches
     Gesicht. Hohe Wangenknochen. Breite Nasenflügel. Die Augen weit auseinander liegend, goldbraun wie Sirup und mit schwarzen
     Kleopatra-Balken umrandet, die in den Augenwinkeln spitz zulaufen. Ein üppiger Schmollmund, der fast wie ein aufgesetztes
     Lachen wirkt, weil die Lippen mit pfirsichfarbenem Lippenstift weit über die Konturen hinaus nachgezogen sind, als sei es
     nötig, sie noch voller und breiter erscheinen zu lassen.
    Nutte. Luder. Billige Schlampe. Diese Frau nimmt jetzt Mutters Platz ein. Ich strecke die Hand aus und fletsche die Zähne
     zu einem Lächeln.
    »Hallo, Valentina. Schön, dich nun endlich kennen zu lernen.«
    Ihre Hand in meiner Hand: kalt, schlaff, ohne Druck. Der perlmuttglänzende pfirsichfarbene Lack auf den langen Fingernägeln
     passt zum Lippenstift. Ich sehe mich mit ihren Augen, wie ich vor ihr stehe: klein, dünn, dunkelhaarig, busenlos. Keine richtige
     Frau. Sie lächelt Mike an – ein langsames, verruchtes Lächeln.
    »Mögt ihr Wodka?«
    |91| »Ich habe gerade Tee gekocht«, sage ich.
    Vaters Augen verfolgen jede ihrer Bewegungen.
    Als ich sechzehn war, hat er mir verboten, Make-up zu tragen. Er schickte mich nach oben, und ich musste mir das Gesicht waschen,
     bevor ich aus dem Haus gehen durfte.
    »Nadia, stell dir vor, alle Frauen würden ihr Gesicht anmalen. Dann gäbe es keine natürliche Selektion mehr. Das würde unvermeidlich
     dazu führen, dass die ganze Art immer hässlicher wird. Du willst doch wohl nicht, dass es so weit kommt, oder?« Was war er
     doch intellektuell. Warum konnte er nicht sein wie jeder normale Vater und einfach sagen, dass es ihm nicht gefiel? Und jetzt
     hechelt er dieser angemalten russischen Nutte hinterher. Oder ist er vielleicht inzwischen zu kurzsichtig, um zu sehen, wie
     dick geschminkt sie ist? Oder glaubt er, sie hatte schon von Geburt an pfirsichfarbene Lippen und Kleopatra-Balken an den
     Augenwinkeln?
    Jetzt erscheint noch jemand in der Tür, ein etwa dreizehn Jahre alter Junge. Etwas dicklich, kindlich sommersprossiges Gesicht,
     lockiges braunes Haar, runde Brille. Einer seiner Schneidezähne ist abgebrochen.
    »Du musst Stanislav sein«, strahle ich ihn an.
    »Bin ich.« Charmantes Zahnlückenlächeln.
    »Schön, dich kennen zu lernen. Ich habe schon viel von dir gehört. Kommt, lasst uns Tee trinken.«
    Anna mustert Stanislav von oben bis unten, aber ihr Gesicht lässt nicht erkennen, was sie denkt. Er ist jünger als sie und
     deshalb uninteressant.
    Verlegen sitzen wir um den Tisch herum. Der Einzige, der entspannt wirkt, ist Stanislav. Er erzählt von seiner Schule, von
     seinem Lieblingslehrer, von dem Lehrer, den er am wenigsten mag, von seiner Lieblingsfußballmannschaft, seiner Lieblingspopgruppe,
     von seiner wasserfesten Sportarmbanduhr, die er am Plattensee verloren hat, von seinen |92| neuen Nike-Turnschuhen, dass er am liebsten Pasta isst und dass er Angst davor hat, dick zu werden, weil

Weitere Kostenlose Bücher