Kurzes Buch ueber das Sterben
näher, der Verkehr wurde dichter, und ich ging in Gedanken die Strecke durch. Die Autobahn nutzend, die bald enden würde, überholte ich noch sooft wie möglich und schielte aus dem Augenwinkel auf sein müdes Gesicht. Das war er also. Der von heute, der von vor fünf Jahren, vor zehn Jahren, und der jener Tage damals, an diesich außer uns niemand erinnerte. Er sah müde und ein wenig grau aus und hatte abgenommen, aber verändert hatte er sich nicht. Irgendwo unter dieser Haut waren immer noch das Gesicht und das Leben von damals, von vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren, Tag für Tag, nacheinander, Stunde für Stunde, Minute für Minute – das Leben, das sich von unseren Körpern nährte. Ich schaute von der Seite, er schien mir ein bisschen weniger geworden zu sein. Ein seltsames Gefühl. Nicht, dass er kleiner geworden wäre; eher als wäre er innen ein Stück leer geworden, als wäre Platz entstanden für das, was kommen, für das, was in seine Hülle eindringen sollte, was in all das eindringen würde, was er vorher gewesen ist. So dachte ich.
Über den Tartinijev trg kehrte ich zum Ufer zurück. Im Hafen, der an den Platz grenzte, lagen weiße Boote. Vor vielen Jahren habe ich hier frühmorgens eine Katze gesehen, die einen Hund von ihrer Beute vertrieb: Fischinnereien. Außerdem einen Mann in Hausschuhen, der mit einer Angel einen Fisch gefangen hatte, ihn gegen einen Stein schlug und dann nach Hause ging, um sich sein Frühstück zu machen. Jetzt bog ich rechts ab, in Richtung des offenen Meeres, weil ich den Geruch des kühlen, klaren Windes spüren wollte. Ich stellte mir vor, dass er irgendwo aus den Bergen des Atlas kam, die Pyrenäen überquerte und erst hier nachließ, über Piran, am Vorabend von Ostern. Als ich zurückkehrte, schlief mein Begleiter in dem winzigen Schlafzimmer oben. Der Vranac und der Teran waren weniger geworden. Ich räumte ein bisschen auf und war ein bisschen sauer, schließlich waren wir nicht Tausende Kilometer gefahren, um zu schlafen. Ich setzte mich und wartete, dass es Abend wurde, dass er vielleicht aufstehen und wir doch noch zusammen rausgehen würden. Ich hätte mir denken können, dass er einfach keine Kraft hatte, um ununterbrochen zu grübeln, und im Schlaf Schutz suchte. Aber ich blieb in der aufgeräumten Küche sitzen und wartete.
Was geschieht mit der Zeit, die vergangen ist? Wohin verschwinden die Ereignisse, an denen wir teilhatten? Wo zum Beispiel ist heute der Sommertag, an dem wir uns in Zagórz in den Zug setzten, nachdem wir von der Küste aus zwanzig Stunden lang per Autostopp durchs ganze Land gefahren waren? Sicher hatten wirhier und dort angehalten, um uns in die Decke zu wickeln und zu dösen. Oder um in eine schäbige Kneipe an der Straße zu gehen und ein Bier ohne Schaum zu trinken; und die Einheimischen verstummten bei unserem Anblick auf der Stelle. Juli, vielleicht August. Der Zug fuhr nach Łupków. Drei oder vier alte grüne Waggons und eine Dampflok. Wir saßen ganz am Ende des Zuges, auf den Stufen des letzten Waggons, und rauchten. Der Geruch der Zigaretten mischte sich mit dem des Dampfes aus der Lokomotive und mit der Hitze. 1977 oder 1978. Wir waren frei. So kam es uns vor. Was übrigens auch egal ist. Wir hatten ein Zelt. Ein schweres, verblichenes Leinenzelt. Und bestimmt irgendwelche Säcke, denn aus unerfindlichen Gründen verachteten wir Rucksäcke. Vielleicht weil alle Rucksäcke trugen? Und eine Gitarre. Einen russischen Kasten mit sieben Saiten und einem seltsam hohen Griffbrett. Er spielte auf ihr, sobald wir irgendwo saßen. Amerikanische Musik auf einer russischen, das heißt sowjetischen Gitarre. Aber die amerikanische Musik war links, also passte sie auf surrealistische Weise zu der Gitarre. Woody Guthrie, Pete Seeger, der frühe Bob Dylan. Wir warenaus Arbeiterfamilien und zugleich ein bisschen vom Dorf, und so fanden die Dinge und Ereignisse ihren verborgenen Sinn. Wir waren im Schatten Sowjetrusslands geboren, doch unsere Phantasie nährte sich vom linksgerichteten volkstümlichen Amerika. Der Zug war leer. Drinnen hing ein Geruch nach schwarzem Tabak, alter Pisse und Staub. Das war der Geruch der Freiheit. Wir stiegen in Komańcza aus und campten wild, direkt an der Landstraße. Kein Mensch dort. Wir waren schläfrig. Er klimperte auf der Gitarre, und ich schlug das Zelt auf. Es hatte ein Loch. Früher musste es mal orange gewesen sein. Am nächsten Tag wollten wir in die Berge. Einfach nach Osten. Wir hatten so gut
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