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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Republik Venedig und die hier und da in Stein gemeißelten Löwen des heiligen Markus. So hatte ich mir diese zwei, drei Tage vorgestellt, fern von zu Hause, von unseren verständnisvollen Frauen, unseren Kindern und dem Trubel der Osterfeiertage. Dreißig Jahre nachdem wir zwischen den Gleisanlagen von Grochów die Vision gehabt hatten, dass das Leben uns nie verraten, nie übers Ohr hauen würde und dass alles, was es dafür erwartete, das absolute Einverständnis mit dem sei, was es bringen würde. Und wir waren einverstanden, klar, denn wir fühlten uns als Teil der Welt und als Teil der Erzählung, die wir selbst vorantrieben. Mir kam es vor, als wären wir auf direktem Wege aus dem Grochów von damals in das Piran von heute gefahren, nur dass wir jetzt einen anständigen Wagen und ein bisschen Geld besaßen und es keine Grenzen mehr gab, aber der einzige echte Unterschied war, dass wir in zwei, drei Tagen zurückkehren mussten, wie wir es versprochen hatten. Anders als damals, wenn wir aus unseren proletarischen Elternhäusern abgehauen waren, um per Anhalter quer durchs Land zu fahren, ohne Geld, ohne Schlaf, ohne Essen. Halb tot, weil wir von dem billigen Wein einen Kater hatten. Außerhalb der Zeit, deren Lauf wir erst bemerkten, wenn es zu kalt wurde, um unter freiem Himmel oder an einer Bushaltestelle auf dem Dorf zu schlafen. Einmal weckten uns Kinder in weißen Hemden. Das Schuljahr fing an. Ich dachte und stellte mir vor, dass wir nur ein bisschen älter waren und Piran die Fortsetzung unseres Lebens, alles ganz ähnlich, nur dass wir nicht mehr an der Straße standen und winkten, sondern andere mitnahmen. Die Jungs aus Podlasie-Grochów, dem ländlichen Vorstadtreich der wertlosen Wunder, zeitlich und räumlich ans Mittelmeer versetzt. Aus den engen Hinterhöfen des Ostens in den goldenen Schatten Venedigs, dessen Lichter man bei gutem Wetter in der Nacht angeblich von Piran aus sehen konnte. Das stellte ich mir vor. Und dass wir ein bisschen rausgehen würden, um die Seltsamkeit und die Ironie des Daseins zu kosten. Aber er wollte nicht. Wir aßen etwas, er trank Wein und sagte, er sei müde. Ich ging allein. Um die Landzunge mit dem Leuchtturm herum, durch das kühle Labyrinth der Gassen und Treppen, wo ich den Weg zu St. Georg fand. Die Stadt war schön und fremd. Nichts verband mich mit ihr außer der Tatsache, dass ich drei oder vier Mal hier gewesen war. Ich ging einfach spazieren, ohne etwas Besonderes zu empfinden. Die Stadt gefiel mir mit ihrem Geruch von Holzrauch, mit den Katzen auf den roten Dächern und den nach Fisch stinkenden Booten. Bei St. Georg waren mir zu viele Leute. Sie kamen hierher, um vom hohen Steilufer aufs Meer hinunterzuschauen. Ich ging weiter, auf der Suche nach ruhigeren Stellen. Die Kirchen waren geschlossen. Durch die durchbrochenen Gittertore konnte man hineinsehen. In einer und einer zweiten erklang geistliche Musik aus Geräten, die direkt auf dem Boden standen. Irgendwo, vielleicht bei Unserer lieben Frau im Schnee, sah ich eine alte Nonne, die Blumen in einer Vase zurechtmachte, in das grau-silberne Licht getaucht, das durch ein hohes Fenster fiel, ganz unwirklich. Ich wünschte mir, er könnte all das sehen, aber er war ja in dem steinernen Haus am Kai geblieben. Vielleicht schlief er, vielleicht sah er aus dem Fenster nach Südwesten, auf den flimmernden Glanz des ruhigen Wassers. Ganz allein mit dem Wissen, das ich nicht mit ihm teilen wollte. Das heißt, ich hörte zu, aber ich ermunterte ihn nicht, mehr zu sagen. Außerdem erzählte er nie von sich, jedenfalls nicht gern.
    Schwer zu sagen, wann zu uns durchdringt, dass es geschehen wird. Vielleicht realisieren wir es nicht, solange es nicht geschieht? Vielleicht betrachte ich auch jetzt, da ich begriffen habe, dass es geschehen wird, dass es jeden ereilt, dennoch lieber andere als mich selbst? Will die Tatsache fortscheuchen, loswerden, ihr ausweichen? So wie damals in der Gegend von Gödöllő, als er sagte, dass er höchstwahrscheinlich in einiger Zeit sterben werde, und ich nicht darauf einging. Jedenfalls nicht direkt. Denn ich benutzte kein einziges Mal das Wort »Tod« oder das Wort »sterben«. Vielleicht tat er es auch nicht, aber er musste ja auch nicht, er wusste es einfach schon. Wir redeten über die Technik, die Medizin, die Prozeduren und versuchten, mit Hilfe dieser toten, konkreten Begriffe die Angst und das Dunkel zu zerstreuen. Aber das Wort »Tod« sprachen wir nicht aus. Budapest kam

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