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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Horizont ist. Vor allem zu Beginn des Frühlings, wenn über den bräunlichen, zu Boden gedrückten Gräsern die erwärmte Luft zitterte. Aber so ist es immer an Orten, wo Bahngleise verlaufen. Von zwei ins Unendliche laufenden silbernen Fäden kann man den Blick nicht losreißen. Sie sind magnetisiert, wie ein Eisensplitter folgt ihnen unsere Sehnsucht bis ans Ende der Welt.
    Nicht ausgeschlossen, dass die Typen mit den Flaschen – »Königsbier«, Wein der Marke – nomen est omen – »Apfelblüte« und »Tafelwodka« – den Blick ebenfalls auf die Unendlichkeit geheftet hatten. Sie saßen am Rande ihres Lebens und schauten in die Ferne. Doch aufzustehen und loszugehen wäre ihnen nie in den Sinn gekommen. Dazu waren sie zu erwachsen, zu männlich, zu proletarisch. Wenn der Abend dämmerte, erhoben sie sich und kehrten in die Siedlung zurück. In den vierstöckigen Wohnblocks aus grauem Backstein gab es keinen Aufzug, also stiegen sie die Treppe hoch durch all die menschlichen Ausdünstungen. Dieser undefinierbare, aber starke Geruch setzte ein, sobald man das Treppenhaus betrat. Tausende von billigen Mittagessen – Kraut, Frikadellen, Tomatensuppe –, an der Tür abgestellte Schuhe, der erhitzte Staub auf den Glühbirnen, die strenge Note von brennendem Gas, die komprimierte Aura enger Wohnungen, die dicht mit Hab und Gut ausgefüllt waren. So roch das Leben von Menschen, die Tag und Nacht zusammenwaren.
    Als sie dich in den Ofen schoben, wusste ich schon, dass ich das alles würde beschreiben wollen. Weil ich nichts anderes tun konnte. Dieser Ofen, dieser Raum, dieser Wagen erinnerten mich an die Fabrik unserer Väter. Die später unsere war. Das alles spielte sich hinter einer Scheibe ab, aber ich konnte die erhitzten Stahlspäne riechen, die Funken, die unter der Korundscheibe hervorspritzten, das Öl, ich nahm die Gerüche der verschiedenen Abteilungen wahr: Schmiede, Härterei, Presse. Obwohl sich alles hinter Glas abspielte. Als das Gebläsezum Einsatz kam, das die Temperatur auf über tausend Grad erhöhen sollte, war es wie in der Fabrik. Selbst die grünen Kacheln an den Wänden erinnerten daran – an den Umkleideraum mit den schrecklichen Metallschränken, in denen die Arbeitskleidung immer von einer öligen Feuchtigkeit durchdrungen war. Ich konnte den Moment nicht ausstehen, wenn wir kurz vor sechs den dunkelblauen Drillich anziehen mussten. Er war schwer von der Fabrikluft. Schwer und kalt. Fast wie aus Metall. Eigentlich zog ich ihn nicht an, sondern schob mich mit Abscheu hinein. Es dauerte Minuten, bis er die Körperwärme annahm. Das speckige Gefühl in den Taschen. Die Metallspäne. Jetzt erinnere ich mich, dass der Stoff nicht dunkelblau, sondern grau war. Grau wie alles ringsum, die grünlichen Körper der sowjetischen Maschinen, das verrußte Glas der Fenster und der mit Holz gepflasterte Fußboden, schwarz vor Schmiere und Dreck. Unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit waren die ganzen Hallen, die ganzen Abteilungen von einer winterlichen Dämmerung erfüllt. Selbst wenn es heiß war. Zum Beispiel in der Schmiede neben den elektrischen Öfen. Oder in der Härterei, wo das hellorangene Metall in ein Ölbad getaucht war. Auch dort herrschte kaltes, graues Licht. Das war das Leben unserer Väter. Und wir sollten es wiederholen, es wartete fix und fertig auf uns, wir mussten gar nichts tun. Morgens, von der Haltestelle aus, betrat ich mit der Masse der anderen Männer durch das Haupttor die Fabrik, als würde ich mein eigenes Schicksal betreten. So kann man es formulieren, obwohl damals weder du noch ich wussten, was Schicksal ist. Simple twist of fate ... Doch die Berührung des Drillichs fühlte sich an wie die Berührung fremder, kalter Haut. Die Männer in der Makowska glichen unseren Vätern, aber wir wären nie auf die Idee gekommen, uns neben sie zu setzen. Wir gingen weiter, bis wir aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Über die Gleisanlagen, durch kleine Wäldchen, über die Bahndämme, um den Zügen nachzuschauen, die weiter in die Landschaft fuhren, zum Ostbahnhof, zum Hauptbahnhof oder nach Wladiwostok. Weil von Anfang an beschlossen war, dass wir unsere Väter verraten würden. Weil wir so weit wie möglich weg wollten. Weil wir nicht vor Morgengrauen aufstehen wollten. Weil wir dachten, das sei Freiheit. Weil wir Verräter waren.
    Eines Tages, im Herbst oder Frühling (obwohl mir der Herbst lieber wäre), überquerten wir ein paar Bahndämme und Nebengleise zwischen

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