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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Kozia Górka und Utrata. In den Schutthalden fanden wir einen durchgerosteten Kessel zum Wäschekochen. Wir sammelten Hölzchen, trockene Gräser und Stengel und machten damit Feuer. Der Tag neigte sich dem Ende zu. In der Ferne, jenseits des Flusses, hob sich vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne schwarz die Innenstadt ab. Einige Hochhäuser, der Kulturpalast; ein bisschen wie im Ausland. Aber damals griff jeder Blick nach anderen Paradiesen. Wir schauten tief in die Landschaft hinein, und schon waren wir dort. Das »Wir« musst du verzeihen. Irgendwie habe ich keine Wahl. Ich weiß noch, dass es dunkler und kälter wurde. Ich brach immer wieder Hölzchen und warf sie ins Feuer. Es brannte orangerot, ringsum verdichtete sich die Dunkelheit. Altes Gras, vom Dröhnen der Züge und vom Kreosot gequälte Erde, Utrata. Und nur diese Flamme am Rande der Dunkelheit, am Rande der Nacht. Unsere Umrisse, wenn wir reglos dasaßen, müssen fast unsichtbar gewesen sein. Wo waren wir damals? Ich weiß es natürlich nicht mehr, aber mit Sicherheit nicht dort. Sicher waren wir zu einer weiteren Reise aufgebrochen, um dem Schicksal zu entgehen, um es auszutricksen. Wir stellten uns einfach bestimmte Dinge vor und waren dann mitten drin. Diese Dinge verflochten sich so sehr mit der Realität, dass später, aus der Entfernung, alles wirklich war, alles war in unsere Körper eingedrungen wie die Luft, wie das Essen und blieb dort für immer, setzte sich in den Knochen ab, kreiste im Blut.
    Manchmal schalte ich den Computer ein und suche eine Karte jener Gegend. Ich klicke auf das Satellitenbild und schaue von oben. Man sieht alles, und fast alles ist wie damals. Nur die drei Wohnblocks für Obdachlose, an der Dudziarska, am Ende der Welt, sind hinzugekommen. Ich gucke von oben auf das dunkle Grün und die grauen Striche der Straßen. Ich gehe immer weiter nach unten und halte Ausschau nach der orangeroten Flamme. Aber sie erscheint nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie da ist, dass sie im Dunkeln glimmt, dass sie dort kriecht unter der Oberfläche der Zeit, man muss nur daran denken, ab und zu trockene Gräser nachlegen, ein bisschen Holz.
    Ich weiß nicht, wie es vor sich geht. Ist es ein Augenblick oder dauert es eine Zeit? Und wenn du es weißt, ist es dann so, als wäre es schon so weit? Ich hätte nach alldem fragen sollen. An jenem Tag, als wir im Morgengrauen losfuhren. Immer weiter nach Süden, und es wurde immer wärmer. Budapest hatte noch keine fertige Umgehungsstraße, also irrten wir umher, mussten darauf achten, dass wir nicht vom Weg abkamen und direkt bei der Petőfi-Brücke landeten, dann ging es den Fluss entlang nach Érd, ein Stück M0, um endlich auf die M7 zu gelangen. Es war noch nicht Mittagszeit. Eine junge Frau in einem kleinen Auto überholte uns. Man sah, dass sie glücklich war und aus voller Kehle sang. Gegen drei erreichten wir Ljubljana. In Rožna Dolina fanden wir das Haus von Maschas Eltern. Wir tranken Kaffee, erhielten den Schlüssel und fuhren weiter. Noch etwa hundert Kilometer, dann fällt die Erde allmählich zum Meer ab, wird kalkig und trocken. Alle möglichen Pflanzen tauchen auf, die es bei uns nicht gibt. Zypressen, Liguster, Lorbeer. In Koper lagen weiße Schiffe vor Anker. In Portorož wuchsen Palmen an der Promenade. Es war Karsamstag. Wir fuhren nach Piran. Dreißig Jahre zuvor hattenwir in Utrata ein Feuer entzündet, und wir kamen uns vor wie die Helden einer nie endenden Geschichte. Als handelte es sich um eine Platte, um Lieder, die man endlos auflegen kann, immer wieder. Und wenn sie langweilig würden, bräuchte man nur nach der nächsten zu greifen. Jetzt saß er mit müdem Gesicht neben mir. Ein Stück vor Budapest hatte er gesagt, er wisse es schon, sie hätten es ihm gesagt, es gebe eine Chance, aber – und so weiter. Es muss vor Gödöllő gewesen sein, denn gleich darauf sahen wir unten in der Ferne die große Stadt liegen. Aber ich hörte nur zu und ließ ihn mit seinem Wissen allein.
    In Piran war es fast leer, kühl und hell. Maschas Haus stand direkt am Ufer. Man trat hinaus, und schon war man an der Adria. Fünfzehn, zwanzig Schritte, und die Wellen schlugen an den steinernen Kai. Ich ging in den Laden und kaufte Käse, Brot, Oliven, Kürbiskernöl, Pršut und Wein: Vranac aus Montenegro und einen dunklen, herben Teran aus dem slowenischen Karst. Ich wollte mäßig trinken, spazieren gehen, den dunkelblauen Horizont betrachten, die weißen Mauern aus der Zeit der

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