Kurzes Buch ueber das Sterben
denke an mich, aber auch an alle Menschen, die langsam aus ihrer Hülle schlüpfen, sich langsam lösen. Wenn ich also die Hündin betrachte, werde ich die Vision der menschlichen Sterblichkeit nicht los. Unser gelber, nutzloser Hund (er bellt nicht, schwänzelt nicht, wedelt nicht, zeigt keine Freude bei der Begrüßung) verwandelt sich in ein Ding, dessen man sich entledigen muss. Ja, manche raten, man solle das bald tun, um sich selbst den Ärger und dem Tier die Qual zu ersparen. Schließlich wird sich nichts mehr ändern, die Situation ist irreversibel. Eine Spritze und fertig. Das könnte ich sogar selbst machen. Wenn es sein musste, habe ich früher Schafe und Ziegen geschlachtet. Doch aus irgendeinem Grund werde ich den Gedanken an die Menschen nichtlos, die an all den sorgsam verborgenen Orten liegen, die dem Sterben dienen. Diese Menschen sind nutzlos. Sie verschlingen Energie, Geld, Arbeit und erregen Ungeduld oder Gleichgültigkeit. Ich weiß, wie es abläuft, ich habe es viele Male gesehen: Drei, vier Leute vom Pflegepersonal, mit Latexhandschuhen, kommen ins Zimmer. Zwei heben den fast schwerelosen Körper empor, die anderen nehmen rasch die Windel ab, waschen, legen eine neue an. Nach drei Minuten ist keine Spur mehr davon zu sehen, dass irgendetwas geschehen ist. Nur ein seltsamer menschlich-unmenschlicher Geruch hängt noch in der Luft. Vielleicht ist es einfach der Geruch des Menschen, der uns mit Entsetzen erfüllt, der uns abstößt und verfolgt, deshalb sperren wir ihn an diesen fernen und unsichtbaren Orten ein. Wir bezahlen die Leute mit den Latexhandschuhen dafür, dass sie diesen Geruch für uns einatmen. Wir bezahlen sie dafür, dass sie das Sterben begleiten. Letzten Endes bezahlen wir sie dafür, dass sie in gewisser Weise für uns sterben. Denn wenn wir am Tod anderer Menschen, am Tod Angehöriger teilnehmen, sterben wir selbst ein bisschen, werden selbst ein bisschen sterblicher. Wir kaufen uns einfach eine weitere Dienstleistung, um selbst keine Zeit zu verlieren. Um diesen Geruch nicht einatmen zu müssen.
Unsere Zivilisation ist seltsam. Sie rettet, bewahrt, verlängert uns das Leben. Und zugleich macht sie uns dem Tod gegenüber hilflos. Wir wissen nicht, wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollen. Bei meiner Großmutter war es so, dass Tanten und Nachbarinnen sie wuschen und ihr die Kleidung für den Sarg anlegten. Mein Nachbar ist zu Hause gestorben. Seine Tochter hatte ihn aus dem Krankenhaus geholt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass er unter Fremden sterben sollte. Es war ein langes Sterben, also musste sie all die Krankenhaustätigkeiten lernen, einschließlich der Verabreichung von Morphium. Und so starb mein Nachbar in seinem Zimmer, mit dem Blick auf die grünen Hügel, auf die er jeden Morgen geschaut hatte. Aber meine Großmutter und der Nachbar starben einen Tod, der heute geradezu utopisch erscheint.
Bisweilen sucht mich die Vision einer Stadt heim, einer großen Stadt, in der alle Sterbenden in ihren Wohnungen bleiben. In den oberen Stockwerken moderner Hochhäuser, in bewachten Siedlungen, die morgens veröden, um sich erst am Abend wieder zu bevölkern, durchdünne Wände abgeschirmt vom Straßenlärm, von der geballten Aggressivität der modernen Metropolen, mitten im nie verstummenden Heulen der Stadt, mit dem Schein der Neonlampen in den erlöschenden Pupillen. Das ist meine Vision. Dass man nicht in Krankenhäusern, Hospizen oder Altersheimen stirbt, sondern in Häusern, in Wohnungen, die die meiste Zeit leerstehen. Dort hat man schon Probleme, einen Hund zu besitzen und auszuführen, wie sieht es dann erst mit Sterbenden aus. Wie soll man einen Sarg aus dem achten Stock transportieren? Senkrecht im Fahrstuhl? Und dann? Was ist mit dem Trauerzug im städtischen Verkehr? Im Stau zur Kirche, zur Kapelle und dann auf den Friedhof? Mit Hupen und Blinken, damit die übrigen Trauergäste den Weg finden?
Sogar auf dem Land haben die Begräbnisrituale sich verändert. Bei der Beerdigung meiner Großmutter ging der Zug vier Kilometer in der Hitze von der Kirche auf den Friedhof, und den Sarg trugen die Angehörigen auf den Schultern. Als im gleichen Dorf vor einiger Zeit mein Onkel bestattet wurde, gelangte der Fußgängerzug nur bis zur letzten Bebauung, und dann gingen alle zu ihren geparkten Autos in der Nähe derKirche, um hinter dem Leichenzug herzufahren.
Wir sind immer mehr, und immer mehr von uns werden sterben. In immer größerer Einsamkeit.
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