Kurzschluss
Abkühlung sorgte.
Das Wochenende war deshalb für viele Ausflügler enttäuschend verlaufen. Und auch dieser Montag verhieß keine durchgreifende Änderung.
Der Fischreiher segelte elegant über die stille Wasserfläche. Drüben am Schilfgürtel schwamm ein Erpel aufgeregt hinter einem Entenweibchen her. In der Luft lag das Zwitschern von Vögeln, die jetzt, in diesen frühen Sommertagen, ihr Revier behaupteten. Auf der hölzernen Aussichtsplattform, die am bewaldeten Ufer auf den See hinausgebaut war, stützte sich ein Mann am Geländer ab und beobachtete das Erwachen der Natur. Er hatte den Rollkragen seines Pullovers hochgezogen und die blaue Windjacke zugeknöpft. Obwohl kein Wölkchen den Morgenhimmel trübte, war es kalt. Die Sonne würde noch eine halbe Stunde brauchen, bis sie hoch genug war, um über den Berghang in das tief eingeschnittene Tal zu scheinen. In den Gesang der Vögel und das Schnattern der Enten mischte sich das unablässige Rauschen des Straßenverkehrs, der sich knapp 200 Meter entfernt an der Talaue entlangschlängelte. Dort, auf halber Hanghöhe, verlief auch die Eisenbahnstrecke, auf der gerade ein schneeweißer ICE der bereits sonnigen Hochfläche entgegenstrebte.
Wenn Herbert Braun an diesem Ort stand, fühlte er sich jedes Mal eins mit der Natur. Oft lauschte er minutenlang reglos ihren Geräuschen. Dann nahm er wieder sein Fernglas vor die Augen, um den Enten, Fischreihern und Blesshühnern zuzuschauen, wie sie auf der pastellfarben schimmernden Seeoberfläche ihre Bugwellen hinter sich herzogen.
Selten nur verirrte sich hier draußen, vor den Toren dieser Kleinstadt, ein morgendlicher Spaziergänger auf den Waldwegen. Meist war Braun allein. Er liebte diese Sommermorgen über alles. Es waren jene Momente, die ihn den täglichen Stress vergessen ließen, der ihn überfiel, wenn er am Schreibtisch saß und sich den Problemen des Tourismus zuwandte, der in dieser Gegend nicht so recht in Schwung kommen wollte. Dabei boten die steil abfallenden Hänge entlang der nordöstlichen Schwäbischen Alb viele reizvolle Winkel. Doch die Großstädter aus den Bereichen Reutlingen und Stuttgart zog es eher nach Bad Urach als Richtung Geislingen, wenn auch die Stadt wegen ihrer Eisenbahnsteige weithin bekannt war. Aber irgendwie, so schien es Braun, hatten es hier die Städte und Gemeinden in den vergangenen Jahrzehnten verpasst, auf sich aufmerksam zu machen. Und dies, obwohl die Kreisstadt Göppingen mit Hohenstaufen einen geschichtsträchtigen Ort deutscher Vergangenheit aufzuweisen hatte.
Brauns Gedanken verselbstständigten sich – und er ließ sie gerne gewähren. Es war sein ganz persönliches Brainstorming, wie solche Gedankenspiele heutzutage großspurig und vor allem auf Englisch in den Unternehmen genannt wurden. Er konnte in solchen Momenten alles um sich herum vergessen, auch wenn er gerade mit dem Fernglas auf den prächtigen Pappeln gegenüber einen Fischreiher ins Visier nahm. Deshalb bemerkte er auch den Mann nicht, der sich auf dem weichen Pfad näherte und plötzlich hinter ihm stand. Braun erschrak, als er die Stimme hörte: »Sie sollten Ihr Fernglas weiter nach links richten.«
Er riss sein Fernglas von den Augen und drehte sich irritiert um. Vor ihm stand ein Mann mittleren Alters, die Hände tief in einen zerknitterten olivgrünen Parka gesteckt. Das Gesicht war unrasiert, die dunklen Haare nicht gekämmt.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte der Mann, »aber Sie sollten wirklich mal dort rüberschauen. Ich glaube, da ist jemand ertrunken.«
*
Sander hatte bereits die zweite Nacht ziemlich unruhig geschlafen. Das vorgestrige Interview mit Frederiksen, das aus Fragen bestand, die Büttner vorgegeben hatte, war ziemlich brisant gewesen. So offene und deutliche Antworten hatte Sander nicht erwartet. Wenn auch nur ein Teil davon stimmte, dürfte es bei einer Veröffentlichung für ziemlichen Wirbel sorgen. Sander hatte noch am Samstagabend bei der Weiterfahrt mit dem Gedanken gespielt, selbst als Journalist in das Thema einzusteigen. Aber erstens hatte er Urlaub und zweitens, so meldete sich sein Gewissen, hatte er Büttner versprochen, nichts davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Büttner wollte diese Bombe selbst platzen lassen, sich dann aber mit allen Hintergründen Sander offenbaren. So war es vereinbart – und so würde es auch laufen.
Doris zeigte sich erleichtert über Georgs Einsicht und mied es, während den langen
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