Kurzschluss
anderen tun – und vor allem nicht auffallen. Unter keinen Umständen auffallen. Nichts tun, was später irgendjemanden an dieses Auto erinnern konnte. Womöglich würden sie in einigen Wochen eine Fernsehfahndung ausstrahlen: Wer hat am Soundsovielten auf den Autobahnen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Süddeutschland ein verdächtiges Fahrzeug gesehen?
Mein Gott, versuchte er seine Gedanken zu zügeln, was gab es nicht tagtäglich Verdächtiges und Merkwürdiges entlang der Fernverkehrsstraßen? Er war doch nur ein ganz normaler Geländewagenfahrer mit MST-Kennzeichen. Zumindest hier im Raum Berlin fiel er damit nicht auf. Später, irgendwo hinter der Hauptstadt, würde er es ändern. Schon jetzt quälte ihn der Gedanke, wie er das bewerkstelligen konnte. Sicher nicht auf einem Autobahnparkplatz. Aber auch nicht in einem Waldstück. Dies, das war ihm bewusst, würde einer der kritischsten Momente seines Planes sein. Noch kritischer konnte es nur werden, wenn er in eine Polizeikontrolle geriet. Aber auf Autobahnen war dies eher unwahrscheinlich, erst recht an einem Vormittag. Deshalb musste er so schnell wie möglich wieder auf die Autobahn zurück.
*
Georg Sander liebte diese langen Fahrten mit dem Wohnmobil. Viel zu oft waren sie in der Vergangenheit nur in Südtirol oder im Tessin gewesen, endlich hatten sie sich mal wieder zu einer größeren Aktion durchgerungen. Wie damals, in der Jugendzeit, als er mit seinem klapprigen VW-Bus und einigen Freunden übers Wochenende nach Venedig gefahren und bei der Heimfahrt beinahe wegen eines Sekundenschlafs in eine Baustellenabsperrung gerast wäre, so zog es ihn auch jetzt hinaus – auf die ›große lange Straße der Einsamkeit‹, wie er es, einem alten Schlagertitel folgend, gerne ausdrückte. Auch bis zum Nordkap war er damals einmal gefahren, beinahe Tag und Nacht, rund um die Uhr. Die Straßen in Norwegen waren noch holprig, kurvig und schmal gewesen. Doch es hatte ihm nichts ausgemacht.
Jetzt, viele Jahre später, kam ihm die Entfernung bereits in Dänemark endlos weit vor. Mit der Fähre waren sie von Puttgarden gleich drüben im dänischen Rødbyhavn gewesen, doch der Landweg bis zur nächsten Fähre in Helsingør – der sogenannten Vogelfluglinie folgend – wollte kein Ende nehmen. Wie am Tag zuvor zerrte der Sturm jetzt wieder am Wohnmobil und peitschte der Regen von allen Seiten gegen das Fahrzeug. Das Autobahn-Gewirr um Kopenhagen präsentierte sich grau in grau und Sander konzentrierte sich bei den vielen Einmündungen und Abzweigungen nur auf die Schlusslichter seines Vordermannes. Die weibliche Stimme aus dem Navigationssystem empfahl ihm die jeweilige Fahrspur, was Doris mit ihrer Landkarte auf den Knien kritisch überprüfte. Sander wusste dies zu schätzen und befolgte deshalb auch eher ihren Rat als den der Computerstimme. Das schien ihm klüger zu sein – nicht nur, weil es in der Navigationssoftware mehr als genug Fehler gab, sondern Doris zu einer gewissen Eifersucht neigte, wenn er der Frauenstimme im Gerät mehr Glauben schenkte als ihr.
Doris nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass auch die zweite Fähre an diesem Freitagnachmittag ein großes und stattliches Schiff war und sich von der rauen See nicht allzu sehr ins Schaukeln bringen lassen würde. Damit blieb sie wohl von Übelkeit verschont.
Als sie das Schiff im schwedischen Helsingborg wieder verließen und sich trotz Navigationsgerät nur mühsam in dem unübersichtlichen Spurenverlauf im Hafengebiet zurechtfanden, staunte Sander über die vielen deutschen Kennzeichen. Derzeit waren sie wohl alle wieder unterwegs – die Abenteurer, die zur Mitternachtssonne auf der E 6 zum Nordkap fuhren. Lebhaft hatte er noch in Erinnerung, wie er damals, vor über 30 Jahren, auf den Campingplätzen alle paar Tage die gleichen Touristen getroffen hatte, die in ähnlichen Etappen gereist waren. Wohnmobile hatte es noch wenige gegeben, dafür waren selbst ausgebaute VW-Busse der Renner gewesen. Die meisten Urlauber aber nächtigten in Zelten oder in den Hütten, die auch heute noch den Pkw-Touristen zur Verfügung standen, wie er vor Kurzem im Reiseführer gelesen hatte.
»Wir werden einige von denen da noch öfter sehen«, meinte Sander, als er sich in die Kolonne der Fahrzeuge mit deutschen Kennzeichen einreihte. »Die meisten fahren zwar zum Nordkap, davon bin ich überzeugt, aber viele kurven sicher auch im Süden rum.«
Doris nickte. Seit sie sich intensiv mit den
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