Kuss der Ewigkeit
ungefähr achtundzwanzig Jahren lächelte mich von einem Foto an, das auf der ersten Seite klebte. Sie war der rote Faden des Albums; manchmal erschien sie vor einem Brunnen oder an Deck eines Schiffes, andere Male lächelte sie an alltäglicheren und nicht weiter bemerkenswerten Orten in die Kamera. Gelegentlich erschien auch eine hübsche Blondine mit kurzem Bob im Bild, und ein- oder zweimal waren sie zusammen mit einer großen Gruppe von Leuten zu sehen. » Schau dir das an.«
Nathanial drehte sich um und sah mir über die Schulter.
» Das hier.« Ich blätterte ein paar Seiten zurück und zeigte ihm ein Foto, das auseinandergerissen worden war, sodass eine Hälfte davon fehlte. » Und die hier.« Ich blätterte zum Ende des Albums, wo aus einigen weiteren Fotos Stücke herausgerissen worden waren und die brünette Frau ein paar Jahre jünger aussah.
» Sie hat jemanden aus ihrem Leben gerissen. Wahrscheinlich einen Exfreund. So was habe ich schon mal gesehen.« Nathanial drehte sich wieder um und setzte seine Untersuchung des Bücherregals fort.
Okay, dann hatte ich also offensichtlich keinen Hinweis gefunden. Flüchtig sah ich mir noch ein paar Fotos mehr an, bevor ich das Album zuklappte und es wieder zurück ins Regal stellte.
Ich nahm meinen Rundgang durch den Raum wieder auf und blieb kurz bei der Stereoanlage stehen, um nachzusehen, welcher Sender zuletzt eingestellt worden war. Klassik. Die Videosammlung der Toten warf ebenfalls nicht viel Licht auf sie, nur einige Liebesschnulzen und ein paar Fitnessvideos. Sie war nicht besonders interessant und viel zu ordentlich für meinen Geschmack. Wenn sie der Typ gewesen wäre, der sich ein Haustier anschafft, dann wäre sie sicher einer von diesen Haustierbesitzern gewesen, die das Tier nicht auf ihre Möbel ließen und sich ständig über Tierhaare Sorgen machten. Ich war noch nie besonders gern bei solchen Leuten geblieben.
» Hey, seht euch das an!«, rief Gil vom hinteren Teil der Wohnung aus.
Ich wandte mich um. Gils Stimme kam von der Tür am Ende des Gangs, doch unterwegs kam ich an einer anderen Tür vorbei und spähte in ein absolut nichtssagendes Badezimmer mit schwarz-weißen Armaturen. Ich vermisste Kinder; Kinder hatten immer interessante Badezimmer.
In der Sekunde, als ich das Schlafzimmer betrat, wusste ich, dass es das Zimmer war, in dem Phyllis gestorben war. Der Rest der Wohnung sah makellos aus, doch dieses Zimmer war ein Schlachtfeld: Das Bett war abgezogen und verschoben, die Tür des begehbaren Kleiderschranks aus den Angeln gerissen, eine Lampe und ein zweiter Fernseher umgestürzt und die Scherben über den Fußboden verstreut, und Stücke des Teppichs waren herausgeschnitten und entfernt worden. Der Schaden am Teppich war höchstwahrscheinlich von der Polizei verursacht worden, als sie Spuren sichergestellt hatte. Der fehlende Bereich war etwa groß genug für eine Leiche mit einer ziemlich ansehnlichen Blutlache darum herum.
Etwas zerrte am Rande meines Bewusstseins, und ich erstarrte. Es war derselbe Geruch, den ich bei Lorna aufgefangen hatte: tierisch, aber anders. Kein Gestaltwandler, aber… ähnlich.
» Hier ist etwas, das ich nicht genau festmachen kann«, flüsterte ich, als Bobby und Nathanial hereinkamen.
Sie blieben stehen und starrten mich an.
» Könnt ihr den Gestaltwandler riechen?«, fragte Gil.
Bobby atmete tief ein. » Hier sind eine Menge Gerüche. Hauptsächlich Tod; es ist ihnen nicht gelungen, den durch Putzen auszumerzen, aber den Einzelgänger kann ich nicht wahrnehmen.«
Nein, hier war etwas… Etwas in diesem Zimmer kitzelte meine Erinnerung. Ich schloss die Augen, ließ die Geräusche und Gerüche über mich hinwegspülen, und dann traf es mich, als habe ich eine entfernte Erinnerung ausgegraben.
» Ich rieche den Einzelgänger.« Doch etwas stimmte mit dem Geruch nicht. Er war nicht wie der eines gewöhnlichen Gestaltwandlers. Ich kramte in meinem Gedächtnis, warum ich mir so sicher war, dass dieser Geruch zu dem Einzelgänger– oder überhaupt zu einem Gestaltwandler– gehörte. Langsam dämmerte mir die Erkenntnis. » Er war nie in Firth, hat sich dort nie verwandelt, deshalb riecht er nicht danach. Der Einzelgänger ist eindeutig ein Shifter aus der Stadt.« Woher wusste ich das? Als mir bewusst wurde, aus welcher Quelle dieses Wissen stammte, sah ich Nathanial an, von tiefem Entsetzen ergriffen. Es war nicht meine Erinnerung oder irgendetwas, das ich gehört hatte. Ich machte Gebrauch
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