Kuss der Sünde (German Edition)
blieb an ihrer Seite wie ein Schatten. Sie suchte sogar die passenden Kleider für Viviane heraus. Während sie in die weiten Hosen und den Kittel eines Stallburschen schlüpfte, sattelte Pauline Saladin. Dann holte sie mit fliegenden Haaren den Sattel ihres Ponys aus der Sattelkammer. Viviane trat ihr in den Weg.
„Bring ihn wieder zurück. Du bleibst hier.“
„Ich will mitkommen. Was ist, wenn du mich brauchst? Gemeinsam können wir Juliette viel besser überzeugen.“
Hastig überprüfte Viviane die Sattelgurte ihres Pferdes. „Du wirst auf keinen Fall mit mir kommen. Die Straßen sind nachts unsicher, und Lillybeau ist sowieso viel zu langsam. Du bleibst hier und gehst zurück ins Bett.“
„Und was soll ich Papa und Maman sagen, wenn ihr bis morgen früh nicht zurück seid?“, fragte Pauline bang und setzte ihren Sattel ab.
„Wir sind zurück, bevor jemand wach ist. Falls nicht, dann hast du weder etwas gesehen noch gehört. Du hast geschlafen, verstanden?“
Sie nahm einen schmierigen Dreispitz vom Haken und stopfte ihr Haar unter den Hut. Als sie den Stall verließ, schob Pauline den Riegel vor. „Immer, wenn es wirklich aufregend wird, bin ich nicht dabei.“
„Du wirst noch genug Aufregung erleben in deinem Leben, Pauline“, vertröstete sie die kleine Schwester halbherzig und stieg in den Sattel.
Pauline lief vor ihr her zum Hoftor und öffnete es. In gemächlichem Trab erreichte Viviane die nächste Straßenecke. Erst als sie außer Sichtweite des Hauses war, trieb sie Saladin an und galoppierte über das rutschige Kopfsteinpflaster der leeren Straßen, nahm die Straßenecken in knappen Bogen und jagte die Allee entlang gen Bois de Boulogne. Saladins Hufe schmatzten im Schlamm der Landstraße. Sie beugte sich über seinen Hals und spornte ihn zu Höchstleistungen an. Olivier saß in seinem Fälschernest, und sie würde ihre Schwester dort herausholen.
Juliettes Jugend erlaubte ihm, jede Gemütsregung an ihrem Mienenspiel abzulesen. Die Genugtuung über eine gelungene Flucht aus ihrem Elternhaus war binnen kürzester Zeit verflogen. Dabei hatte Adrienne ihm ein Zimmer überlassen, das durchaus einen Herzog zufriedengestellt hätte – sah man über die ineinander verschlungenen Leiber im Teppichmuster hinweg. Auch die Tisch- und Stuhlbeine zeigten Liebespaare in teils unwahrscheinlichen Verrenkungen.
Auf einem Wandteller bestieg ein Hund eine kniende Frau, und auf einem Gemälde wand sich eine Maid zwischen zwei gehörnten Männern. Juliette war von Bildern umgeben, die stets nur das eine in immer neuen Variationen zeigten und ließ mit wachsendem Unbehagen die Atmosphäre auf sich wirken. Ihr Blick schnellte umher, ohne einen festen Punkt fixieren zu können.
„Weshalb hast du mich hierher gebracht?“, fragte sie und klemmte die Hände zwischen die Knie.
„Weil Adrienne die Freundlichkeit besitzt, dir in der nächsten Zeit eine Unterkunft zu stellen. Ich zahle für dieses Zimmer und deine Mahlzeiten. Hier wird es dir an nichts fehlen.“
Seine Stimme klang in den eigenen Ohren monoton. Seitdem er sein Haus verlassen hatte, hatte sich Kälte in ihm eingenistet. Taubheit breitete sich in ihm aus. Seine Reaktionen und Antworten kamen geradezu mechanisch. Er spürte nichts. Instinktiv hob sie die Schultern an und wich seinem Blick aus.
Sie blickte auf eine bis zum Rand gefüllte Pralinendose. Das Marzipan war zu weiblichen Brüsten und männlichen Gliedern geformt. Angewidert verzog sie den Mund.
„Ich will hier nicht bleiben. Dieses Zimmer ist … anstößig. Hast du kein Haus?“
„Doch, allerdings wüsste ich nicht, weshalb ich dich dort unterbringen sollte.“
Ihre Mimik erschlaffte. Mit solchen Antworten wusste dieses verhätschelte Ding natürlich nicht umzugehen. Er musste sich zusammenreißen, ihr etwas vorgaukeln und sie in Sicherheit wiegen. Obwohl ihm Lügen zur zweiten Natur geworden waren, fielen sie ihm diesmal schwer. Ein Teil von ihm schien weggebrochen. Stück für Stück schien etwas in seinem Inneren zu zersplittern und verloren zu gehen. Er sehnte sich nach Schlaf, danach, die Gedanken an Viviane abzuschalten. Abrupt sprang Juliette auf und zwang ihn zurück zu seinem Plan.
„Ich werde nicht hierbleiben“, begehrte sie schrill auf. „Bring mich wieder nach Hause.“
Sacht schubste er sie auf das breite Bett zu. Sie riss die Augen auf, als sie weich auf der Matratze landete.
„Was hast du vor, Olivier? Was soll das alles?“
„Du hast es
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