Kuss des Tigers - Eine unsterbliche Liebe
unvorstellbar weit auf. Ich sah seine scharfen Zähne und beugte mich beunruhigt vor. Vorsichtig schob Matts Vater den Kopf näher an den Tiger heran. Der Tiger blinzelte, hielt jedoch still, und seine mächtigen Kiefer klafften noch weiter auf. Schließlich steckte Matts Vater den Kopf in das Maul des Tieres, tief hinein in dessen Schlund. Nach einer kleinen Ewigkeit – das gesamte Publikum hielt den Atem an – zog er ihn behutsam wieder heraus. Nachdem sein Kopf völlig frei und der Dompteur zur Seite getreten war, brach das Publikum in ohrenbetäubenden Jubel aus, woraufhin er sich mehrmals verbeugte. Da erschienen mehrere Artisten und halfen, den Käfig abzubauen.
Mein Blick glitt unwillkürlich zu dem Tiger, der nun auf einem der Hocker saß. Seine Zunge bewegte sich hin und her. Er verzog das Gesicht, als würde er etwas Sonderbares riechen oder als müsste er würgen, wie eine Katze, die einen Haarball ausspuckt. Doch er schüttelte sich nur und saß regungslos da.
Matts Vater hob die Hände, und die Zuschauer spendeten lautstark Beifall. Die Peitsche knallte erneut, und der Tiger sprang hastig vom Hocker, rannte zurück durch den Tunnel, die Rampe hinauf und in seinen Käfig. Matts Vater eilte aus dem Rund und verschwand hinter dem Vorhang.
Mr. Maurizio rief mit dramatischer Stimme: »Der Große Dhiren! Mille grazie! Vielen Dank, dass ihr alle zum Zirkus Maurizio gekommen seid!«
Als der Tigerkäfig vor mir weggerollt wurde, überkam mich auf einmal der Drang, dem Tier tröstend über den Kopf zu streicheln. Ich war nicht sicher, ob Tiger Gefühle zeigen können, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubte ich, seine Stimmung zu erspüren. Es war Traurigkeit.
Genau in diesem Augenblick umhüllte mich eine sanfte Brise, die den Duft von Nachtjasmin und Sandelholz zu mir trug und den starken Geruch nach heißem Popcorn und Zuckerwatte überdeckte. Mein Herz schlug schneller, während mir Gänsehaut die Arme hinaufkroch. Doch so schnell, wie der liebliche Wohlgeruch gekommen war, verflog er auch wieder, und ich verspürte ein unerklärliches Loch in der Magengrube.
Die Lichter gingen an und die Kinder trampelten aus dem Zirkuszelt. Mein Verstand war immer noch ein wenig benebelt. Ich stand langsam auf, drehte mich um und starrte zu dem Vorhang, hinter dem der Tiger verschwunden war. Ein schwacher Hauch von Sandelholz und ein Gefühl der Verunsicherung klangen nach.
Ich muss irgendwie krankhaft überreizt sein. Die Vorstellung ist zu Ende, und es ist offiziell: Ich bin verrückt geworden.
3 · Der Tiger
3
D er T ige r
I n einem kreischenden Durcheinander stürmten die Kinder aus dem Zelt. Auf dem Parkplatz sprang der Motor eines Busses an. Als er mit viel Lärm zum Leben erwachte, polternd, zischend und Rauch aus dem Auspuff pustend, stand Matt auf und reckte sich. »Bist du jetzt be reit für die richtige Arbeit?«
Ich stöhnte auf, spürte ich doch bereits jetzt den Beginn eines mächtigen Muskelkaters in den Armen. »Natürlich. Ich kann’s kaum erwarten.«
Er begann mit meiner Hilfe die Sitzplätze vom Abfall zu befreien. Als das getan war, reichte er mir einen Besen. »Wir müssen den ganzen Raum fegen, alles in die Kisten packen und sie dann wegräumen. Du fängst schon mal an, und ich bringe die Geldkassetten zu Mr. Maurizio.«
»Alles klar.«
Den Besen vor mir herschiebend, bewegte ich mich langsam über den Boden, wie ein Schwimmer, der seine Bahnen zog. Während ich sorgfältig den Müll aufkehrte, wanderten meine Gedanken zurück zu den Zirkusnummern, die ich gesehen hatte. Am besten hatten mir die Hunde gefallen, doch der Tiger hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Immer wieder drängte sich die Raubkatze in mein Bewusstsein.
Ich frage mich, wie das Tier aus nächster Nähe ist. Und warum riecht es nach Sandelholz? Ich wusste nichts über Tiger, außer den Dingen, die ich spätabends in Naturdokus gesehen oder in alten Ausgaben des National Geographic gelesen hatte. Tiger hatten mich nie besonders interessiert, aber andererseits hatte ich auch noch nie in einem Zirkus gearbeitet.
Ich war fast mit dem Fegen fertig, als Matt zurückkehrte und mir half, den riesigen Müllberg aufzuschaufeln, bevor wir eine gute Stunde darauf verwendeten, Kisten zu packen und sie zurück in die Abstellkammer zu tragen.
Nachdem das getan war, erklärte mir Matt, dass ich nun bis zum gemeinsamen Abendessen der Truppe eine oder zwei Stunden frei hätte. Ich sehnte mich nach etwas Zeit für mich
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