Kuss mich kuss mich nicht
Bestimmt hatte sich die kranke junge Frau schmerzlich nach dem innig geliebten Mann gesehnt.
Callie legte den Brief zur Seite und wanderte an eins der Fenster, von denen aus das Anwesen zu überblicken war. In seiner erleuchteten Pracht sah Buona Fortuna einfach atemberaubend aus. Das Haus, das bei Tageslicht so düster war, wirkte abends, wenn in allen Räumen Lichter funkelten, einfach wunderschön.
Und die Party war in vollem Gang. Durch das Fenster sah sie die Konturen elegant verhüllter Menschen, die durch die Räume schlenderten.
Irgendwo in dieser Menge war auch Jack. Und sie stand wieder mal am Rand und sah von außen zu.
Sie erinnerte sich an den Abend, an dem sie mit ihrer Mutter vor dem großen Haus gestanden hatte, während ihr Vater mit Leuten gefeiert hatte, die für ihn Freunde, für sie aber Fremde gewesen waren, und ihr wurde bewusst, dass sich der Kreislauf ihres Lebens heute Abend schloss.
Nur war es diesmal so, dass sie aus freien Stücken abseits stand. Nichts und niemand hielt sie fern von dem geliebten Mann. Niemand außer ihr selbst.
Wieder dachte sie an Anne auf ihrem Totenbett.
Und an das letzte Mal, als ihr Vater bei der kranken Mutter zu Besuch gewesen war. Sie sah ihre Mutter vor sich, schwach und unfähig zu sprechen, die nur noch ihre Augen hatte bewegen können, als ihr Vater mit vor Gram verzerrter Miene an ihr Bett getreten war. Das, was er gesagt hatte, rief einen harschen Schmerz in Callie wach.
Als sie seine Sätze wieder hörte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur Grace beschützte, wenn sie ihre Herkunft weiterhin vor aller Welt verbarg. Auch sie selbst versteckte sich vor der grauenhaften Wahrheit, so als ob es sie nicht gäbe, spräche sie den Namen ihres Vaters und die Dinge, die geschehen waren, niemals aus.
Doch sie waren nun einmal geschehen. Es war wirklich so passiert.
Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie, wenn sie sich ihrer Vergangenheit nicht endlich stellte, ihre Chance vertäte, all das zu bekommen, was sie sich bereits gewünscht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Einen Menschen, der sie liebte. Eine eigene richtige Familie. Einen Ort, an dem sie tatsächlich zuhause war.
Sie wusste, was sie tun musste. Es gab nur eine Möglichkeit.
Sie nahm den Brief vom Tisch, steckte ihn vorsichtig ein und ging zurück zum Haus.
23
A ls Jack eine halbe Stunde später aus seinem Arbeitszimmer trat, war er überrascht von dem guten Gefühl, das ihm die Vorstellung vermittelte, hundert Millionen Dollar in ein Unternehmen zu investieren, mit dem sich garantiert kein großer Gewinn erzielen ließ. Aber das lag zum Teil an der Reaktion von Bryan McKay. Vor lauter Glück hatte der Arzt bis zum Ende des Gesprächs kaum einen zusammenhängenden Satz herausgebracht.
Verdammt, sagte sich Jack, wenn es ihm schon nicht gelang, seine eigenen Probleme in den Griff zu kriegen, könnte er wenigstens die gute Fee für ein paar andere Menschen spielen. Dazu bräuchte er nur ein Tutu und einen Zauberstab.
Na, wenn das kein gelungenes Motiv für seine Werbekampagne wäre, dachte er.
»Jack! Wie geht es Ihnen?«, grüßte ihn der Vorstandsvorsitzende eines des größten Versicherungsunternehmen des Staats, als er wieder in die Eingangshalle kam. »Hören Sie, ich würde gern mit Ihnen über Arbeitsunfallversicherungen sprechen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
Der Mann und er unterhielten sich eine Weile, bis Jacks Mutter im Foyer erschien. Neben ihr ging Nate. Er trug die weiße Jacke eines Kochs und sah aus, als wäre er am liebsten auf der Stelle wieder in der Küche abgetaucht.
»Es ist Zeit«, erklärte sie, nahm ihre beiden Söhne an den Händen, führte sie in den Salon und brachte die Prozession direkt vor dem Kamin, unter dem Porträt von Nathaniel dem Sechsten, zum Stehen. Sofort senkte sich Stille über den Raum, und die Leute schoben sich, um besser hören zu können, was sie sagen würde, dichter an sie heran.
Jack blickte sich im Zimmer um und merkte, dass Gray im Hintergrund mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule lehnte und mit zugekniffenen Augen in Richtung seiner Mutter sah.
»Falls ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte«, fing Mercedes an.
Jack hoffte, sie fasste sich bei ihrer diesjährigen Rede möglichst kurz. Auf jeder ihrer Partys zollte Mercedes seinem Vater in einer Litanei aus Lobhudeleien, die beinahe schon peinlich war, Tribut. Sie war offenbar entschlossen, die Legende von Nathaniel dem Sechsten
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