Kusswechsel
wollte.
»Warum sind Sie nicht zu Ihrem Prozesstermin gegangen?«, fragte ich Sally.
»Ich musste doch die kleinen Zwerge fahren. Es war ein normaler Schultag. Ich nehme diese Arbeit sehr ernst.«
»Und da haben Sie ihn vergessen.«
»Ja«, sagte er. »Scheiße. Ich habe ihn wirklich vergessen.«
Er schloss die Augen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Verdammter Mist.« Ein breites Gummiband spannte sich um sein linkes Handgelenk. Sally zog an dem Band und ließ es zurückschnellen. »Aua!«, schrie er.
Grandma und ich sahen ihn fragend an.
»Ich versuche, mir das Fluchen abzugewöhnen«, sagte Sally. »Die kleinen Zwerge mussten immer nachsitzen, weil sie so schlimme Schimpfwörter benutzten, wenn sie aus meinem Bus stiegen. Deswegen hat mir mein Chef dieses Gummiband gegeben. Jedes Mal, wenn ich fluche, muss ich an dem Band ziehen.«
Ich sah mir sein Handgelenk näher an. Es hatte fette rote Striemen. »Vielleicht sollten Sie sich lieber eine andere Arbeit suchen.«
»Kommt gar nicht in Frage, verdammt noch mal. Oh, Scheiße! Mist.«
Klatsch. Klatsch. Klatsch.
»Das muss doch wehtun«, sagte Grandma.
»Das tut arschweh«, sagte Sally.
Klatsch.
Wenn ich Sally jetzt mitnahm, müsste er über Nacht bei der Polizei bleiben, weil das Gericht erst morgen früh öffnete. Vorher konnte Vinnie keine neue Kaution für ihn stellen. Bei Sally bestand keine Fluchtgefahr, so sah er nicht aus, deswegen entschied ich, eine Ausnahme zu machen und ihn erst morgen zu den normalen Öffnungszeiten dem Gericht vorzuführen. »Wir müssen bei Gericht eine neue Kaution für Sie stellen«, sagte ich zu Sally. »Wir können ja einen Termin zwischen zwei Busfahrten ausmachen.«
»Das wäre super. Um die Mittagszeit habe ich immer ein paar Stunden frei.«
Grandma sah auf die Uhr. »Wenn wir noch rechtzeitig zum Beerdigungsinstitut kommen wollen, müssen wir jetzt los.«
»He, Wahnsinn«, sagte Sally. »Wer ist denn aufgebahrt?«
»Lorraine Schnagle. Ich war heute Morgen schon mal da, aber da lag der Deckel auf dem Sarg.«
Sally machte ein mitfühlendes
Ts ts.
»So was kann ich ja auf den Tod nicht ab.«
»Ich auch nicht. Macht mich kirre«, sagte Grandma. »Deswegen gehe ich noch mal zur abendlichen Totenwache. Dann haben sie den Sargdeckel hoffentlich abgenommen.«
Sally hatte die Hände in den Taschen und nickte emsig wie eine Wackelkopfpuppe. »Verstehe ich völlig. Grüßen Sie mir Lorraine.«
Grandmas Miene hellte sich auf. »Wollen Sie nicht mitkommen? Auch bei geschlossenem Deckel könnte es noch eine ganz schöne Totenwache werden. Lorraine war ziemlich beliebt. Es wird bestimmt gerammelt voll. Stiva stellt auch immer Plätzchen hin.«
»Ja, gerne«, sagte Sally und hörte nicht auf mit dem Kopf zu nicken. »Ich brauche nur eine Minute, um mich fein zu machen.«
Sally verschwand im Schlafzimmer, und ich versprach dem lieben Gott, dass ich auch ganz ganz artig sein würde, wenn Sally nur nicht in hochhackigen Stilettos und Abendkleid wiederkommen würde.
Als Sally wieder auftauchte, hatte er immer noch das verblichene T-Shirt, die Jeans und die ausgelatschten Turnschuhe an, trug dazu aber gewagte Paillettenohrringe und eine museumsreife Smokingjacke. Ich fand zwar, dass der liebe Gott mein Versprechen nicht ausreichend gewürdigt hatte, wollte aber fürs Erste gnädig über die Sache hinweggehen.
Wir zwängten uns in den Buick und gondelten durch die Stadt zu Stivas Beerdigungsinstitut.
»Ich habe Hunger«, sagte Grandma. »Ich könnte gut einen Hamburger vertragen. Wir haben nur leider nicht viel Zeit. Wir könnten in ein Drive-in fahren.«
Ein paar hundert Meter weiter bog ich in die Spur zum Autoschalter eines McDonald’s und bestellte einen Big Mac, Pommes und einen Schokoladen-Shake für Grandma, einen Cheeseburger und Coke für mich und für Sally einen Hühnchensalat nebst Cola light.
»Ich muss auf mein Gewicht achten«, sagte Sally. »Ich habe ein irres rotes Abendkleid, und ich wäre stinksauer, wenn mein Arsch da nicht mehr reinpassen würde.« Er verzog das Gesicht. »Oh, Scheiße.«
Klatsch, klatsch, klatsch.
»Hören Sie doch einfach auf zu reden«, schlug Grandma ihm vor. »Sie kriegen noch ein Blutgerinnsel von dem Gummi an Ihrem Handgelenk.«
Ich übergab Grandma die Tüte mit dem Essen und gab Gas. Ein Mann mit einem schwarzen Piratentuch um den Kopf, in Homeboy-Jeans, neuen Basketballschuhen und mit funkelndem Goldklunker behängt, kam aus dem McDonald’s und ging
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