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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Schatten an der Wand, ein Flackern von Licht und Dunkel, das sich verschiebt, verändert, verändert und mutiert.
    Ich mutiere; ich habe das Pulver genommen.
    Später dann war das Vergessen schwierig gewesen. Mein Gehirn wurde von einem Meer aus Informationen überflutet; unergründliche Schichten aus Daten, Fakten und Gesichtern schwebten vor meinem inneren Auge; so wie Sandkörner und zerkleinerte Muschelschalen die treibenden Wellen des Ozeans trüben und verschmutzen. Lesen ist eine Qual. Die gedruckten Seiten brennen sich tief in meinen visuellen Kortex ein; Absätze kyrillischer Unziale und chinesische Ideogramme, Gedichtstrophen rollen unaufhörlich vorbei, drehen sich und drehen sich, und wenn es aufhört, fühle ich mich schwindelig und mir ist übel, und ich »lese« (und zähle) die fettgedruckten Buchstaben genauso leicht wie früher die Überschriften der kaffeefleckigen Zeitung: Die zweihundertzweiunddreißigste und -dreiunddreißigste Zeile von »Das Lied des alten Seemanns« lauten:
    Allein, allein; ganz, ganz allein.
    Allein auf der weiten, weiten See!
    Das Wort See ist das eintausendvierhundertsiebenundzwanzigste Wort des Gedichtes. Um die endlosen Schnörkeln aus schwarzen Buchstaben zu vergessen, die manchmal lebendig werden und sich wie Seeschlangen in einem klaren Gezeiten-Tümpel winden, muß ich in meinem Hirn auf dem feingesiebten Sand am windigen Strand eine unendlich lange, schwarze Mauer errichten. Darauf lege ich Wörter und Sätze, ganze Bibliotheken mit Gleichungen, damit sie aus meiner inneren Sicht verschwinden, Dunkel zu Dunkelheit, Dunkelheit zu Nichts.
    Für Erinnerungen anderer Art habe ich andere Tricks. Gesichter werden in ihre Primärfarben aufgelöst; das Blau und Grün und Rot strahlen so unerträglich intensiv, daß sie wie kleine Supernovae in meinem Kopf explodieren, bis nur noch eine kleine Wolke schwebender Asche zurückbleibt, zum Gedenken an Freunde, die ich kannte. Mit den Tönen ist es schwieriger: Töne quälen mich; es ist fast unmöglich, Töne zu vergessen. Das Klingen des Glockenspiels vor unserem verwitterten Holzhaus, wenn die Winterstürme begannen; Marys sanfte, leise Atemzüge, wenn sie schlief; das Geräusch der See am Morgen – all diese Töne muß ich durch eine Fourier-Transformation umwandeln; die schrecklich komplexen Wellen in ein Hologramm einhüllen, das einen einzigen, unvergeßlichen Ton enthüllt, den Ur-Ton; das wütende, naßschwarze Brüllen des Universums.
    Manchmal bemüht sich der Biologe mit Nadeln und Meßinstrumenten zu mir, aber die meiste Zeit – an den Tagen, wo der Nebel über der See liegt und der Strand von ihm befreit und sauber ist – läßt man mich in Ruhe, und ich schaue hinaus und frage mich, was das Geheimnis der wenigen lebendigen Dinge sein mag, an die ich mich zu erinnern wünsche. Die Seemöwen, die sich hinaufschwingen und hinabstoßen, die Hunde, die ihnen bellend nachlaufen – an diesen Dingen kann ich mich immer noch freuen und irgendwie kann ich sie auch lieben. Und obwohl sich mein Gehirn mit einer wirklich erschreckenden Geschwindigkeit verändert, befindet sich dort, irgendwo in diesen Milliarden sich verschiebender Synapsen und mutierender Neuronen, noch eine Liebe zum Leben und zu den Lebenden, die größer ist als die Meere der Erde und die Ozeane des Raumes. Ich liebe die Seevögel dort am Strand, und ich habe Angst, daß schon bald eine Zeit kommen wird, wo ich sie nicht mehr lieben werde.
    Aber noch verzehre ich das Pulver, genauso wie es mich verzehrt.
     
    »Aber warum – ich verstehe es nicht?«
    »Weil sie mir einen Job am Institut angeboten haben, Mary.«
    »Ich dachte, du hättest die Nase voll davon, für die Regierung zu arbeiten.«
    »Das hier ist etwas anderes. Ich werde in der Lage sein, meine eigenen Forschungen zu betreiben. Keine Waffensysteme mehr, keine computergesteuerten Partikelstrahlen. Ich kann an der Neurophage arbeiten. An der verdammten Neurophage.«
    »Du weißt, daß ich nicht von hier fort will. Ich liebe Maui. Der Strand ist so schön.«
    »Es gibt auch in Oregon Strände.«
    »Kalte Strände. Als kleines Mädchen bin ich einmal dort gewesen. Es war nebelig und hat die ganze Zeit über geregnet. Es war so kalt, daß man noch nicht einmal im Meer schwimmen konnte.«
    »Hör mal, du wirst Oregon lieben. Es ist dort grün, ein dunkles Grün, ganz anders als hier auf Hawaii, und direkt am Strand beginnen die Berge, die durch den Morgennebel stoßen – es ist verdammt

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