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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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hat fast sein ganzes Haar verloren. Er vermißt dich – was soll ich ihm sagen? Daß sein Vater so damit beschäftigt ist, Elektronen zu zählen, daß er keine Zeit hat, ihn zu besuchen? Du weißt, er haßt die Doktoren.«
    »Wenn er nur alt genug wäre, um die Details zu verstehen.«
    »Ich verstehe nicht, was mit uns passiert ist. Erinnerst du dich noch daran, als wir ihn aus dem Lager holten, wie zufrieden du damals schon damit warst, ihn einfach nur zu streicheln oder in die Luft zu werfen? Erinnerst du dich, daß du ihm biblische Geschichten vorzulesen pflegtest, und wie sehr er die Geschichte von Josephs Mantel mochte?«
    »Weißt du, diese Farben gibt es auch dort, in dem grauen und kreidigen Gelobten Land, dort gibt es alle Farben des Spektrums und alle Grausamkeiten des menschlichen Herzens.«
    »Warum tust du mir das an?«
    »In meinem Hirn brennt ein Feuer, strahlender noch als explodierender Wasserstoff. Ich habe das Gefühl, als würde ich heller strahlen als ein Stern.«
    »Ich hasse dich, wenn du so redest.«
    »Haß/Liebe; Liebehaß.«
    »Ich werde mich ans Krankenhaus wenden müssen.«
    »Mary, verlaß mich nicht …«
     
    Dort gibt es keine Schatten. Das Sternenlicht kann den Nebel nicht durchdringen, doch selbst wenn es das könnte, wäre es nicht genug, um einen Schatten zu werfen. Es ist still dort. Ich scheine nicht mehr riechen zu können. Vielleicht würde, wenn es Frühling wäre, der heranwehende Blütenduft, der Hauch von Veilchen und Jasmin, meine Nase aufwecken.
    Was das Essen betrifft, so haben sie ein paar Schläuche angelegt. Ich sauge das Pulver, das man in lauwarmem Wasser aufgelöst hat, durch Plastikschläuche ein. Ein Zug, schon ist es in meinem Mund, rinnt die Kehle hinunter, ins Blut, ins Gehirn. Das Hirn, das Hirn, das Hirn, das Hirn. Ich muß saugen, denn ich kann meine Arme und Hände nicht mehr bewegen. Es scheint Wochen her zu sein, seit ich das letzte Mal ein Glas Wasser in der Hand hielt. Eine Ratte könnte mir die Finger abnagen, ohne daß ich es spüren würde. Vielleicht hängen meine Arme schlaff an den Seiten herunter, oder sie verfaulen – ich weiß es nicht.
    Manchmal, wenn ich die Schläuche leid bin und der Nebel wie ein Leichentuch, das man über einen Toten legt, über meinen Augen liegt, denke ich an die Asteroiden und die Nahrung, die in ihnen steckt. Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff – die wichtigsten Bestandteile des Eiweißes. Eines Tages werden wir Roboter schaffen, die die Asteroiden in die wichtigsten Elemente spalten. Wenn ich dann die Mengen P-trypto-phan und andere Neo-Amino-Säuren zu mir nehme, die ich selbst bestimmen und synthetisieren werde, bin ich die Schläuche für immer los.
    Ich vermute, daß ich bald nicht mehr Saugen kann, und dann müssen sie sich etwas anderes ausdenken. Knall, tropf, I-V genau ins Hirn, die Ader, das Hirn.
    Man sagt, schizophren zu sein wäre so ähnlich, wie in der Hölle zu brennen. Man ist in einen Flammenvorhang gehüllt, durch den die normalen Menschen die brennende, sich in unaussprechlichen Schmerzen windende Seele beobachten. Wirkliche Kommunikation ist unmöglich. Das Brüllen und Schreien der Verdammten … welche Worte er auch wählen mag, es gibt keine Möglichkeit, die mannigfachen Formen, das kaleidoskopische Funkeln seiner Qualen zu beschreiben.
    Die Veränderung in meinem so kristallisierenden Gehirn gleicht einem illuminierten Himmel. Es gibt weder Begriffe noch Worte noch mathematische Symbole, um die persönliche Ekstase zu beschreiben. Es gibt dort eine Reinheit, die so friedlich ist wie das Meer bei Sonnenuntergang; ein reines Licht, eine schimmernde Verwandtschaft aller Dinge.
    Der Wechsel wird bald eintreten; ich spüre, wie er sich aufbaut, gleich dem Plasma beim Ur-Knall.
    Wenn ich mich nur Mary verständlich machen könnte.
     
    »Mary, Mary, Mary, Mary.«
    »Was ist los mit dir?«
    »Mary, dein Haar, diese Farben, diese Schönheit.«
    »Das tut nichts zur Sache.«
    »Es sieht aus wie ein neugeborener Himmel, oder wie Winterweizen, schimmernd in …«
    »Verdammt, du tust mir weh!«
    »Ich bin die Kraft. Du schimmerst. O Mary, wenn ich es nur festhalten könnte. Schönheit wie …«
    »Hör auf damit!«
    »Ich liebe die Erinnerung an das letzte Du; ohne Augen in Ewigkeit tanzend, tanzend.«
    »Du kannst niemand lieben, wenn du so wie jetzt bist.«
    »Mary, Mary, Mary, Mary …«
     
    Ich verändere mich wie Ton oder Fußabdrücke im Sand am Meeresstrand.
    Sie mußten mir

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