L.A. Woman
schon ihr Nachthemd an, es war sehr spät, und David war noch bei der Arbeit. Seltsamerweise hatte sie ihr Make-up noch nicht entfernt. Sie starrte auf den Monitor und las die Diskussion, die im Chatroom „Geschäftsleute“ gerade ablief. Sie wartete darauf, dass Roger sich einloggte. Es ist doch nur Internet, erinnerte sie sich selbst. Es war dumm sich so zu fühlen, als ob sie eine verbotene Affäre hätte, nur weil sie ein paar Cyberspace-Freunde hatte. Und dass sie einem Freund öfter mailte als den anderen.
Sie hatte, seit sie ihre „Bin ich glücklich“-Frage gestellt hatte, von Roger regelmäßig E-Mails bekommen, und sie waren von Mal zu Mal intimer geworden. Aber das war doch schließlich nicht schlimm. Sie machten einfach ein bisschen Blödsinn. Es war angenehm, mit jemandem zu sprechen (auch wenn es schreiben war), der sie verstand und der sie zum Lachen brachte. Aus irgendeinem Grund hatte sie nie das Gefühl, dass sie David gegenüber zugeben konnte, wenn sie einen schlechten Tag gehabt hatte. Nein, nicht aus irgendeinem Grund, sie wusste ganz genau, warum sie es nicht konnte. Weil verglichen mit seiner Arbeit
nichts
so wichtig sein konnte. Sobald sie einen Kunden hatte, der sie wahnsinnig machte, hatte er bestimmt einen Klienten, der 100 Millarden Dollar an einen Betrüger verloren hatte und ihn fix und fertig machte. Wenn sie gestresst war, weil sie das Haus in Ordnung halten, eine perfekte Frau und eine großartige Chefin sein musste, dann war er noch viel gestresster, weil er schließlich das viele Geld ranschaffen musste, an das sie sich, wie er meinte, bereits gewöhnt hatte. Sie könnte wetten, wenn sie erwähnte, dass sich ihre Periode verzögert hatte, würde er verkünden, dass
er
demnächst Drillinge bekäme.
„Wie geht es dir, meine Schöne?“ las sie.
Judith setzte sich, strich sich unbewusst das Haar glatt, das verführerisch über ihre Schultern fiel. „Woher weißt du, dass ich schön bin?“ tippte sie zurück.
Roger: Du bist doch Judith, oder?
Sie lächelte. „Charmeur!“
Roger: Vielleicht. Also wie geht es dir?
„Schrecklich.“ Sie seufzte und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. „Mein Job ist die Hölle, und mein Mann ist meistens nicht da.“
Roger: Nicht dass ich mich einmischen will, aber er sollte sich mehr um dich kümmern. Du klingst müde. Was immer er tut, so wichtig kann das nicht sein.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es nicht sehen konnte. „Das ist die Natur seines Berufes. Anwälte sind göttergleich.“
Roger: Ich dachte, das wären nur wir Ärzte.
Judith grinste. „Du bist einer von den reichen, gut aussehenden George-Clooney-Doppelgängern, stimmt’s?“
Roger: Stimmt. Genau der Typ, den deine Mutter sich für dich gewünscht hätte, wenn du keinen Anwalt abbekommen hättest.
Judith fühlte, wie Ärger in ihr hochstieg. „Natürlich. Ich habe meinen Mann nach seinem Beruf ausgesucht, nach nichts sonst!“ Es dauerte eine Weile, bis sie eine Antwort bekam.
Roger: Ich habe nur einen Witz gemacht, Judith. Es war nur ein Witz!
Sofort fühlte sie sich schlecht und überempfindlich. „Sorry. Typisches Anzeichen von Trophäen-Gattin-Krankheit.“ Schon in dem Moment, in dem sie auf „senden“ drückte, tat ihr diese Antwort Leid.
Roger: Ich habe mich schon immer gefragt, wie sie euch auf diese kleinen Gestelle mit den gravierten Platten bringen.
Sie wusste, dass er versuchte, ihren kleinen Ausrutscher zu beschönigen. „Nun, ich bin nicht wirklich so eine Gattin. David und ich verstehen uns sehr gut, und er ist mir sehr wichtig.“
Roger: Du hättest mir seinen Namen wirklich nicht zu sagen brauchen.
Sie blinzelte überrascht. „Wieso nicht?“
Roger: Weil er mir dann Leid tun wird, wenn ich nach L.A. komme und dich vollkommen umhaue und dich dazu bringe, ein herrliches Leben mit mir in Atlanta zu verbringen.
Ungewollt schaute sie schnell über ihre Schulter. „Ungezogener Mann.“
Roger: LOL. Das wurde mir schon öfter gesagt.
Sie sah ihn vor sich, einen großen blonden Arzt, der sich von seinem stressigen Tag erholte, seine Füße steckten wahrscheinlich noch in den Operations-Überschuhen (war er Chirurg? Spielte das überhaupt eine Rolle?), während er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht auf der Tastatur rumhackte. Er dachte wahrscheinlich, dass sie eine blonde Henne mit großen Brüsten wäre, die sich über ihren alten Ehemann beklagte. Wir sind beide nur Fantasiegestalten im Internet, beruhigte sie
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