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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukianenko Sergej
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da fast ebenso sicher.
    Aber ich befürchte, ich kenne einen Kandidaten für ein Spiegelbild des Nichts.
    Doch als sei es Vikas Ziel, mich um das letzte bisschen Verstand zu bringen, fährt sie fort: »Mal dir doch mal folgendes Szenario aus: Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million Computer, die ständig online sind. Ein Strom
von Daten schießt von Kontinent zu Kontinent, überflutet die Hosts und Router und landet in den Arbeitsspeichern der Rechner. Inexistente Räume leben und verändern sich nach ihren eigenen Gesetzen. Auch in ihnen fallen Blätter vom Baum, hinterlassen unsere Schritte Spuren, lösen unsere Stimmen Lawinen aus. Die Daten verdoppeln sich, geraten durcheinander, vermischen sich. Programme machen, was du ihnen sagst, sie kreieren Bilder und Avatare – aber wer weiß, wie schnell sich so ein Avatar mit echtem Verstand auflädt?«
    »Jeder Hacker würde sich kaputtlachen, wenn er dich hören könnte«, bringe ich mit hölzerner Stimme heraus.
    »Ich bin keine Hackerin. Ich nehme nur das, was um mich herum geschieht, mit offenen Augen wahr. Und ich frage mich, wie ein Mensch, den es ohne jede Vorwarnung nach Deeptown verschlägt, reagieren würde. Würde er die Stadt für real und lebendig halten? Was würde er in dem Fall zu all den ausgeflippten Spaßvögeln sagen? Oder zu den Menschen, die durchs Labyrinth rasen und sich voller Begeisterung gegenseitig umbringen? Zu den Psychopathen, die in die Puffs strömen? Um ihn herum gibt es alles, was er aus der Realität kennt. Himmel und Sonne, Berge und Meer, Städte und Paläste. Den Raum im Raum, verschiedene Epochen und Völker, Tugenden und Laster. Alles! Alles und nichts. Denn wir brauchen nur das, was wir in der Realität schon hassen. Tod, Blut, künstliche Schönheit und geliehene Weisheit. Was also würde die Tiefe über die Menschen denken, wenn sie denken könnte?«
    Ich schweige. Und ich denke an den Loser, der Monster mit seiner Pistole erschießt, aber niemals einen Spieler
tötet. Der seinen Namen und seine Adresse nicht nennt. Der schon zwei Tage im virtuellen Raum hängt – aber immer noch nicht vor Durst verreckt oder hundemüde ist. Der nicht versteht, dass ein kleiner Junge, der vor Mutanten wegrennt, nur hundert Kilobyte eines Programms auf einem Server im dreiunddreißigsten Level verkörpert.
    Die Worte des Mannes Ohne Gesicht fallen mir ein. Aber diesmal ist es anders. Damit und mit den Geschichten vom Unsichtbaren Boss und vom Lost Point hat er mir im Grunde souffliert: Hier tut sich was, das es bisher noch nie gegeben hat – außer in der Folklore.
    Ein Zittern packt mich.
    Wenn etwas fünfzehnmal hintereinander passiert, ist das kein Zufall mehr! Die Diver hätten den Loser längst aus dem Labyrinth herausgeholt haben müssen – wenn nicht das Netz selbst es verhindert hätte! Der Loser kann aus der Tiefe nirgendwo hingebracht werden – weil er nur in dieser Welt lebt. Er ist ans Labyrinth gefesselt, an die Welt der Schießereien und des Verrats, des Bluts und der Ruinen. Er stirbt und wird wieder lebendig, ohne zu begreifen, was mit ihm geschieht.
    »Vika«, flüstere ich. »Vika, wenn das …«
    »Was hast du?« Sie sieht mich erschrocken an. »Was ist denn mit dir?«
    »Wenn das, was du sagst, wahr ist«, flüstere ich. »Und ich glaube, es ist wahr …«
    Sie packt mich bei der Hand und drückt sie so fest, dass es fast wehtut. »Wann läuft dein Timer ab?«, fragt sie aufgelöst. »Wo wohnst du? Ljonja, komm zu dir! Du bist ein
lebendiger Mensch! Du bist echt! Ich rede nur Unsinn! Scheiße!«
    Das ist wirklich komisch: Vika macht sich Sorgen um mich.
    »Es ist alles okay«, versichere ich. »Ich bin lebendig und echt. Ich habe auch keine Deep-Psychose. Aber ich kenne jemanden, der eventuell nicht echt ist.«
    Seltsamerweise beruhigen diese Worte Vika. Ich an ihrer Stelle hätte genau gegenteilig reagiert und mir noch größere Sorgen gemacht.
    »Solchen Typen bin ich auch schon begegnet«, sagt sie.
    »Vika, ich kenne jemanden, der verhält sich so, wie du es eben ausgemalt hast«, beharre ich. »Er kann Traum und Realität nicht voneinander trennen. Er zieht keine Grenze zwischen ihnen, er lebt in der Tiefe  – und spielt sie nicht.«
    Sie versteht sofort, worauf ich hinauswill. »Im Labyrinth?«
    »Ja.«
    »Das ist ein Realitätsverlust. Ein Nervenzusammenbruch, mehr nicht.«
    »Ich habe schon Nervenzusammenbrüche miterlebt«, halte ich dagegen. »Die … sehen anders aus.«
    »Ljonka.« Vika

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