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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukianenko Sergej
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ja an das Restaurant an. Aber das kann warten. Wir haben noch genug Zeit vor uns, da bin ich mir sicher.
    Wozu wäre das denn sonst alles gut?
    »Irgendwie verlasse ich meinen Raum ziemlich selten«, gesteht Vika. »Ich weiß auch nicht, warum.« Sie zögert, bevor sie fortfährt: »Wahrscheinlich habe ich Angst, unseren Kunden zu begegnen … sie so zu erleben, wie
sie auch sein können. Als lustige, gute, anständige Menschen.«
    »Warum das?«
    »Weil sich dann herausstellt, dass alle Menschen zwei Gesichter haben. Und wir sind der allgemeine Abfalleimer, Leonid. Der Ort, wo du den ganzen Dreck ablädst, der sich in deinem Innern angesammelt hat. Die Angst, die Aggressivität, die unerfüllten Wünschen und die Selbstverachtung. Mit deinem Labyrinth ist es vermutlich nicht anders.«
    »Das ist nicht mein Labyrinth. Ich habe da bloß was zu erledigen.«
    »Dann hast du es leichter. Zu uns kommen die Rotzlöffel, die es nicht erwarten können, Männer zu werden, Männer, die genug davon haben, Männer zu sein, Jungen, die bei ihren Freundinnen nichts zu sagen haben und bei uns Mut fassen wollen … Einige, die kommen, probieren alle Alben durch. Sie sagen: Man muss das Leben doch kennenlernen.«
    Abermals verkneife ich mir die Frage, warum sie in den Vergnügungen arbeitet.
    »Warum schleppen wir ausgerechnet das Schlechteste, das wir haben, mit in die Zukunft?«, will Vika wissen.
    »Weil es nun mal da ist. Und wir es nicht loswerden. Stell dir doch mal vor, um uns herum gäbe es nur Gentlemen in Smokings, feine Damen in Abendkleidern, alle würden sich gepflegt unterhalten, höflich und kultiviert auftreten …«
    »Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

    »Ich auch nicht. Keine Veränderung der Gesellschaft, sei sie im Bereich der Technik oder der Wirtschaft, sei sie so komplex wie jene, die wir in der Tiefe erleben, wird je die individuelle Moral ändern. Wofür auch immer du kämpfst – für die Verachtung der Knechtschaft oder für Gleichheit und Brüderlichkeit, für Askese oder Laissez faire –, die Wahl trifft am Ende immer das einzelne Individuum. Es ist dumm zu glauben, dass die virtuelle Welt die Menschen schlechter macht, als sie sind. Und es ist absurd zu hoffen, dass sie sie besser macht. Uns wurde ein Werkzeug an die Hand gegeben – aber ob wir damit etwas bauen oder uns den Schädel einschlagen, hängt einzig und allein von uns ab.«
    »Es geht nicht darum, ob der virtuelle Raum ein Werkzeug ist, Ljonja. Es geht darum, dass alle genau wissen: Wir sitzen zu Hause oder sind auf Arbeit, wir starren auf einen Bildschirm oder haben einen Helm auf. Und deswegen dürfen wir tun, was immer uns gefällt. Weil es ein Spiel ist. Weil es Fake ist.«
    »Du hörst dich an wie eine Tjurinerin.«
    »Nein, ihre Sichtweise gefällt mir auch nicht. Ich bin bestimmt nicht darauf erpicht, mich im Strom der Elektroimpulse aufzulösen.«
    »Vika …« Ich lege ihr die Hand auf die Schulter. »Es lohnt sich nicht, darüber zu grübeln oder sich deswegen Sorgen zu machen. Die Tiefe gibt es erst seit fünf Jahren. Sie ist noch ein Kind. Sie schnappt sich alles, was ihr unter die Finger gerät, redet dummes Zeug, lacht und weint, wie es ihr gerade passt. Wir wissen nicht, wie sie sein wird, wenn sie erwachsen geworden ist. Wir wissen nicht, ob sie
Geschwister bekommt, die besser sind. Wir müssen ihr einfach Zeit geben.«
    »Wir müssen ihr ein Ziel geben, Ljonja. Wir sind in diese Welt eingetaucht, ohne zu verstehen, was wir eigentlich hinter uns lassen. Ohne gelernt zu haben, in der einen Welt zu leben, haben wir eine neue hervorgebracht. Und wir haben nicht die geringste Ahnung, wohin wir gehen sollen, welches Ziel wir ansteuern sollen.«
    »Dieses Ziel wird sich ergeben«, halte ich dagegen, ohne allzu überzeugt davon zu sein. »Auch hier gilt: Gib der Tiefe Zeit, sich selbst zu finden.«
    »Und wenn sie das schon getan hat?«, fragt Vika amüsiert zurück. »Wenn sie inzwischen zum Leben erwacht ist? Genau wie in der Fantasie von all den Leuten, die noch nie in ihr gewesen sind? Vielleicht leben unter uns inzwischen ja Menschen, die es in der realen Welt gar nicht gibt? Sozusagen Spiegelbilder des Nichts? Vielleicht existieren wir beide ja gar nicht? Oder all unsere Vorstellungen von der Realität sind nur die Fantasie des lebendig gewordenen Netzes?«
    Mit einem Mal wird mir mulmig zumute.
    Nein, ich bin nicht geneigt zu glauben, dass es mich eigentlich nicht gibt.
    Und bei Vika bin ich mir

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