Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
geführt hatte. Elfried hatte sich selbst schon oft gefragt, ob es vielleicht die Intelligenz dieser Tiere war, die ihn anzog. Lange Jahre hatte er Spinnen beobachtet. Ein Reflex faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Sie konnten stundenlang wie versteinert, ohne jegliche Regung zu zeigen, verharren, um dann plötzlich loszustürzen, ohne auch nur einen Augenblick Startverzögerung zu zeigen. Sie beschleunigten nicht etwa fließend ihre Laufgeschwindigkeit, wie man das von anderen Tieren kannte. Es schien vielmehr, als stünde in ihnen unter der versteinerten Ruhe fortwährend ein Beschleunigungspotential bereit, das sofort in voller Stärke abrufbar war, wenn ein Lichtsignal oder eine Bewegung im Netz ihren Angriffswillen auslöste. Eher zufällig entdeckte Elfried mithilfe eines sehr empfindlichen Elektrometers, dass dieses energetische Potential durchaus messbar war.
Ein weiterer Gesteinsstrom rollte in den Gang. Nun wurde es für Elfried langsam gefährlich. Ein Krachen im Lautsprecher zeigte ihm an, dass sich sein Partner Walter einschaltete, dem das unterirdische Poltern offenbar nicht entgangen war. Schon erklang Walters besorgte Stimme:
"Ist bei dir alles in Ordnung?"
"Ja, alles in Ordnung, aber der Gang füllt sich langsam mit Geröll."
"Hier oben hört es sich an, als hättest du eine Horde tobsüchtiger Elefanten zu Besuch. Richtig gefährlich. Hält der Stollen?"
"Der Stollen hält, aber aus einem Riss an der Seite kommt immer mehr Geröll herunter."
"Kannst du’s nicht verhindern?"
"Du kannst ja mal runterkommen und mir helfen die fliegenden Steine zu fangen."
"Nein, danke! Ich warte lieber bis der Gang voll ist und hole dann einen Bagger."
"Quatsch nicht dumm rum! Ich muss einfach abwarten, bis der Einsturz abgeschlossen ist. Das weißt du genauso gut wie ich. Ende!" , beschloss Elfried diesen herzerfrischenden Dialog. Was sollten auch die Sorgen? Was konnte ihm schon passieren, solange ihm nicht die Decke auf den Kopf fiel, solange der Wetterschacht funktionierte und solange er noch einen zusätzlichen Sauerstoffvorrat auf dem Rücken trug. Elfried stand auch nicht unter besonderem Erfolgsdruck.
Seit zwei Jahren lief dieses Projekt: "Erforschung von Flora und Fauna des Karbon im Ruhrtal". Es war insgesamt auf fünf Jahre bewilligt. Aber die über den Ruhrsiedlungsverband beteiligten Firmen hatten durchblicken lassen, dass sie auch nach Ablauf dieser Zeit nicht abgeneigt wären, ihre überschüssigen Profite aufs Neue in ein Unternehmen dieser Art zu stecken. Es hatte Lokalkolorit und gleichz eitig globalen wissenschaftlichen Wert. Somit förderte und es im In- und Ausland ihr Image.
Elfried und Walter hatten die Museen der Umgebung von Zeit zu Zeit mit wunderhübschen, aber für ihre Forschungen nicht weiter wichtigen Abdrücken beliefert. Auf den kleinen Schildchen zur Benennung der Objekte tauchten dann natürlich auch die Namen der Spenderfirmen auf und das gefiel ihnen gut. Was die Forschung selbst anging, passte alles in die Theorie. Sie besagte, dass der Ort ihrer Ausgrabungen durch eine überraschende Faltung in der Karbonzeit entstanden sei. Diese Faltung wölbte sich so hoch auf, dass sie Jahrmillionen später als Rittersitz dienen konnte. Im Augenblick dieser überraschenden Energieaufwallung der Erde umschloss sie einen ganzen Teil der Biowelt, in der unter anderem auch die Ur-Aranea lebte. Während die Spinnen an der Oberwelt den normalen Gesetzen der Entwicklung unterlagen, entwickelte sich in der Dunkelheit des Erdinneren etwas anderes. Die Exemplare, die Elfried und seine Helfer bis jetzt nach oben gefördert hatten, ließen jedenfalls darauf schließen, dass diese Ur-Aranea eine besonders große Art von Spinnen darstellte, größer als jede andere Spinnenart, die je an der Oberwelt gefunden worden war. Elfried hatte sein eigenes Gruselgefühl noch deutlich in Erinnerung. Das erste Exemplar, das er fand, hatte einen Körper der doppelt so groß war wie Elfrieds Hand. Die Beine hatten eine Spannweite von sicher über 60cm. Aber ihre beeindruckende Größe war nicht die einzige Veränderung, die Aranea während ihres Lebens unter Tage erfuhr.
Als Elfried sie im Labor Schicht für Schicht aus dem sie umgebenden schiefrigen Gestein löste, entdeckte er an ihrem Kopf eine rätselhafte Wölbung. Dass Spinnen bis zu acht Augen haben können, ist bekannt. Diese hatte drei ziemlich große. Aber diese Wölbung auf dem Stirnkamm war kein Auge. Sie zeigte auch nicht die geringste
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