Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
beunruhigend. Sie fühlte eines ihrer innersten Gefühle aufgepeitscht, das sie sonst versperrte und das sie schon immer, solange sie denken konnte, vor sich selbst verborgen hatte. Aber diese triste, wilde Nordsee durchdrang mit Urgewalt die Mauer, hinter der sie es verbarg.
Munda spürte Sigi, wie sie ihn noch nie gespürt hatte, gewissermaßen archaisch, falls so was möglich war, nicht als Sigi, rein als Mann. Wie immer, wenn sie wanderten, hielt er ihre Hand. Munda gab ihrem Bedürfnis nach Sexuellem nach, zog Sigi an sich und schlang ihren Arm um seine Hüften. Körperliches Verlangen quoll ihr in den Bauch, von dort in die Kehle und verschlug ihr den Atem.
Sigi sah sie mit seinen großen dunklen Augen fragend an. Munda antwortete ihm mit einem rätselhaft süßen Lächeln, das er erkannt hätte, wenn er es je zuvor erlebt hätte. Aber in diesem Augenblick war es für ihn völlig neu, es überraschte ihn. Es traf ihn in einem Zustand, in dem er jede Menge Bekanntes gebraucht hätte. Es traf ihn in seiner Labilität, da er sozusagen nur auf einem Bein stand. Unmerklich verhärtete sich sein Blick, weil dieses eine kleine süße Lächeln an die Tür in ihm klopfte, hinter der er im Augenblick nicht das große Glück, sondern seine Alpträume vermuten musste.
Er zögerte und dieses Zögern reichte, um Mundas Lust in sich zusammenfallen zu lassen. Das Begehren machte einer schrecklichen Beklemmung Platz. Sigi und Munda sprangen, um ihr zu entgehen, wie Kinder den Dünenrand hinunter und rannten ein gutes Stück den flachen Strand entlang, dorthin, wo die auslaufenden Wogen den Sand plan gezogen hatten. Sie wanderten weiter und näherten sich immer mehr der Inselspitze, wo auf dem letzten hohen Dünenkamm ein stufiger alter Wehrmachtsbunker wie eine riesige graue Schildkröte ihren zerfallenden Panzer zum Himmel erhob. Munda wurde als erste auf dieses seltsame Bauwerk aufmerksam. Sie zeigte Sigi ihre Entdeckung mit ausgestrecktem Arm. Er blieb stehen, weil ihn diese grauen, windumtosten Mauern an etwas erinnerten, aber er wusste nicht, an was. Beinahe abrupt wandte er sich ab, zog Munda wieder in dieses spielerische Laufen hinein. Und während die Dämmerung sehr früh fiel, wie es sich für den Herbst gehört, erreichten sie ihre Hütte, die sie sich gemietet hatten. In ihrem Inneren zischte die Gasheizung und verbreitete oberflächliche, aber angenehme Wärme. Sie schütteten sich Tee auf, und die Hütte erfüllte sich mit seinem ansprechenden und heimeligen Aroma. Alles in Sigi schrie jetzt nach Zärtlichkeit, nach direkter körperlicher Berührung ohne Umwege und ohne Kultur. Aber das Angebot Mundas, das er im Angesicht der klatschenden Wellen von ihr bekommen hatte, stand nicht mehr. Geradezu verzweifelt suchte er in ihrem Gesicht, in ihren Bewegungen nach Signalen, nach Einladung, Übereinstimmung...
"Etwas Kandis?" , fragte Munda.
Als Sigi nickte, bewegte sie sich zwar auf ihn zu, aber schon wieder rückzugsbereit und darauf vorbereitet, sich auch an diesem Abend wieder in die uneinnehmbare Stellung hinter ihrem Buch zurückzuziehen.
Sigi wusste, wenn sie ihm jetzt trotz ihrer eigenen inneren Ablehnung freundlicherweise eine Annäherung gestattete, geschah das nicht einmal aus Mitleid, sondern in dieser merkwürdigen Mischung von Resignation und Trotz, die er hasste. Munda ließ dann etwas geschehen, ja, würde vielleicht selber durchaus aktiv, aber es geschah dann als reines Handeln. Ihre Zärtlichkeit geränne dann zu einer Tätigkeit mit so vielen inneren Vorbehalten, dass letztlich alles Gefühl in ihr ausgeschlossen wurde. Was sie dann taten, äußerlich gemeinsam taten, beträfe dann nur ihn, nicht sie selbst.Sigi spürte die Mauer zwischen ihnen jetzt fast körperlich. Und weil er seinen verlangenden und zärtlichen Gefühlen keinen freien Lauf lassen konnte, zogen sie sich abgekühlt und verletzt von der Mauer zurück. Aber sie verschwanden nicht einfach. Sie begannen vielmehr an der Pforte zu rütteln, an der schon Mundas süßes Lächeln angeklopft hatte, gewissermaßen von der anderen Seite. Sie rüttelten an der Pforte, hinter der Sigi seine Alpträume versperrt hielt. Seltsame, grauenerregende Gestalten hausten dort in dunklen, muffigen Gewölben. Sigis abgewiesene Gefühle begannen verzweifelt an dieser Pforte zu rütteln. In seine Angst vor dem, was hinter der Pforte lauerte, mischte sich immer stärker die Sehnsucht, die müde und verzweifelte Sehnsucht des Wanderers, der zu oft bei
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