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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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für Geburtstage gemacht und bei den Feiern vorgetragen.
    Sigi wusste Munda nicht zu antworten. Was war das denn überhaupt, ein Dichter? Munda ließ sich jedoch herbei und griff nach dem Zettel, den Sigi ihr entgegen hielt. Augenblicklich geriet das anheimelnde Zwielicht zur bedrohlichen Atmosphäre. Als habe Sigi nicht einfach seiner Frau ein kleines, wenn auch trauriges Gedicht überreicht, sondern eine Kriegserklärung.
    Auch Munda schien die Veränderung zu spüren. Sie zog den Rücken noch etwas mehr rund, und ihre übereinandergeschlagenen Beine verkrampften sich. Sie las Sigis Zeilen mehrfach angespannt durch. Sigi lehnte sich im Sessel zurück und versuchte dieser überraschenden Spannung Herr zu werden.
    "Du hast eine sehr schlechte Schrift", begann Munda und sagte danach noch etwas, wie: "Ich kann das kaum lesen..."
    Aber Sigi konnte es nicht mehr richtig hören, weil sich sein Gehör plötzlich auf eine andere Frequenz umgeschaltet hatte. Mundas Worte wurden in seinen Ohren zu ganz anderen Höhen hin verzerrt, gerieten ins Krächzen, vervielfältigten sich, wurden spitz und scharf wie Möwenschreie, ja, wie das Geschrei von hunderttausend Möwen, deren vereinte, vitale Boshaftigkeit seine Seele mit spitzen Schnäbeln zu zerfetzen drohte. Erschreckt durch diesen unheimlichen Vorgang hielt sich Sigi die Ohren zu und schloss die Augen, vielleicht, um mit diesem kindhaften Reflex die bösartige Phantasie zu verjagen. Aber als er nach dem Abebben des ersten Schreckens die Augen zaghaft wieder öffnete, saß ihm diese grauenerregende Gestalt in Mundas Kleidern gegenüber, mit dem Kopf einer riesigen Raubmöwe, deren eiskalte hellgraue Augen ihn unverwandt abschätzig anstarrten und deren scharfer Schnabel wie ein Dolch auf ihn zeigte. Das Entsetzen lähmte ihn vollends, während die Schreie der Möwen in ihm sich zu einem einheitlichen, alles zerreißenden Kreischen verdichteten. Es gelang ihm, die Augen vor diesem entsetzlichen Spukbild zu verschließen. Und erst, als er Mundas Stimme wieder vernahm, wagte er, die Augen erneut zu öffnen. Obwohl er nun Mundas weiches, freundliches Gesicht wieder erkannte, ihre Stimme wieder hörte, die sich teilnahmsvoll nach seinem Befinden erkundigte, blieb doch in seinem Herzen ein Teil zurück, der sich nicht mehr in eine bessere Schwingung versetzen ließ. Es war das dritte Mal, dass sich in Mundas Beisein die Dinge, auf die er sich verließ, bei denen er einfach blindlings davon ausging, dass sie blieben, wie sie waren, verändert hatten. Nach dem letzten vor zwei Jahren, hatte er gehofft, es würde nie wieder passieren. Nun war es wieder geschehen.
    Und nicht etwa langsam, in einem überschaubaren Prozess, sondern blitzschnell, unvorhergesehen, entsetzlich überraschend. Sigi fühlte sich wie jemand, der sich zum Essen an den Tisch setzen will und furchtbar auf den Boden schlägt, weil der Stuhl, den er sich gerade zurechtgerückt hatte, verschwunden war. Und selbst, als Sigi an jenem Abend eine Stunde später in Mundas Armen lag, blieb ein Teil in ihm verschlossen, ließ ihn sogar die Augen geschlossen halten, denn was würde er sehen, wenn er sie wieder aufschlug?
    Sigi hatte nicht viele Freunde. Aber denen, die ihn kannten, fiel auf, dass er schmaler wurde, sehniger, zäher. Neben dieser deutlich sichtbaren äußeren Veränderung erschien zunehmend eine gewisse Unstetigkeit in seinem Blick und in seinen Händen, die ihnen auffiel. Es befremdete sie.
    Vielleicht war es sogar diese zunehmende Befremdlichkeit, die Munda und Sigi beschließen ließ, im Herbst noch einen kleinen Nordseeurlaub einzulegen. Ihr Ziel war eine holländische Insel, vor 35 Jahren noch Teil des angeblich unüberwindlichen Westwalles.
    Der Herbst machte seinem Ruf alle Ehre, und die Nordsee ließ sich auf sein stürmisches Temperament ein. Sie empfing den Herbst mit wilden Freudentänzen. Schon am ersten Tag, als Sigi und Munda unter dem wilden Himmel einsam den sturmgepeitschten Dünenrand entlang wanderten, überkam Munda ein Unbehagen, ein Zweifel, ob sie mit ihrem Urlaubsvorschlag wirklich richtig gelegen hatte.
    Sie erfasste eine Vorahnung drohenden Unheils. Jedenfalls war dieses Land ein hartes und karges Land. Seine Ausstrahlung war keineswegs geeignet, eine verdunkelte Seele zu erhellen, eher, eine helle Seele zu verdunkeln. Munda empfand die Wildheit der Sturmwolken, die Ödnis der graugrünen Dünenlandschaft, das monotone Klatschen der Brecher und die spitzen Möwenschreie als überaus

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