Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
sein hatte. Es waren unzählige mehr, als die zehn Gebote des Alten Testamentes. Was jetzt geschah, hielt sich nicht an die ehernen Regeln.
Das darf doch nicht wahr sein, schrie es in Munda. Mach, dass du hier wegkommst, schrie es. Doch dann wurde diese vernünftige Stimme immer leiser.
Stattdessen war die Luft ringsherum plötzlich von einem tiefen Dröhnen erfüllt. Das Dröhnen griff von außen ihr Innerstes an. Es war, als wenn schwere Hammerschläge gegen ihre innere Mauer schmetterten. Munda begann zu zittern.
Die Mauer in ihr riss und splitterte. Sie drehte sich zu der Frau um, sah sie voll an und küsste sie auf ihren abblätternden Mund, küsste sie immer wieder und intensiver.
Sigi hingegen machte sich an dem Teppich zu schaffen. Er riss immer wieder Teile aus ihm heraus und schmetterte sie gegen die Wand. Es gelang ihm seine zeitweise Trance zu durchbrechen. Er verstand, dass er auf Lebensmustern stand. Er begann die Muster zu zerstören, von denen er ahnte, dass sie sogar sein Leben beeinflussten. Sigi fing zu schreien Er begleitete jeden Hieb mit nachgerade unirdischen Lauten.
Die Frau unterbrach ihre Zärtlichkeiten, die sie mit Munda austauschte.
"Du zerstörst dein Leben!" , sagte sie mit unerträglich ironischer Stimme zu Sigi. “Dieses schöne geheimnisvolle Leben! Anstatt es zu enträtseln, zerstörst du es!"
"Mein Leben?" , schrie Sigi. "Mein Leben? Welches Leben meinst du? Wovon redest Du? Ich habe überhaupt noch nicht gelebt. Ich bin noch gar nicht geboren." Er lachte und schlug wieder zu und wieder. "Nicht geboren!", schrie er jetzt bei jedem Hieb. "Nicht geboren!"
Er schlug zu, bis ihn seine Kräfte verließen, bis ihm der Schaum vor dem Mund stand. Dann fiel er auf die Knie und rutschte zwischen den spärlichen Resten des Teppichs hindurch zu der Frau hinüber und begann sich an ihren Beinen emporzuziehen.
Die Frau ließ Munda während Sigis Bemühungen nicht los. So ergab es sich wie von selbst, dass Munda mit anfasste, Sigi hochzuziehen, bis er schließlich wieder auf seinen Beinen stand. So standen sie einen Augenblick zu Dritt, sich gegenseitig umarmend.
Der helle Lichtschein in der Halle erlosch. SIE war verschwunden. Sigi und Munda fanden sich dort, wo sie waren, in einem Bunker aus dem 2. Weltkrieg, dessen Gänge und Räume nur teilweise von fahlem Mondlicht erhellt wurden. Sie umfassten sich, wankten dem Ausgang zu. Draußen empfing sie eine klare Nacht. Der stete Wind wehte ihnen frische feuchte Nordseeluft entgegen. Das Brausen der Wellen klang fern. Sie atmeten auf.
Maschinenmensch
Eine ausnehmend zerbrechlich wirkende schwarze Gestalt steht auf dem katzenkopfgepflasterten Platz im Schatten des riesigen Münsters, dem mittelalterlichen Wahrzeichen der Stadt. Auf der faltigen Haut dieses Gebirges aus einstmals rötlichem, nun aber immer mehr schwarzgrauem Sandstein, manifestiert sich wie auf einer grandiosen Urkunde, was einzelne Menschen, Gruppen, Völker, Nationen geglaubt haben. Man erkennt in unterschiedlichen Variationen das große Trio: Gott, Jesus, Maria. Sie erscheinen hundertfach abgebildet. Der Heilige Geist taucht so gut wie nie auf. Dem traute keiner von den einfachen Menschen so recht. Zu abstrakt. Der heilige Geist ist etwas für Berufstheologen. In den sechshundert Facetten der riesigen Rosette über dem Eingangsportal, in den Hunderten von Säulen und Säulchen, den Wasserspeiern, immer etwas anders und immer wieder neu, erklingt mit der gleichen Grundmelodie die alte Geschichte: Ein Gott (ein seltsam eifersüchtiger Gott) begattet eine irdische Frau. Zieht er sie zu sich hinauf? Zieht sie ihn zu sich hinunter? Das erkennbare Ergebnis dieses uralten Aktes ist Jesus, ein Menschgott und Gottmensch, vere deus, vere homo (wahrer Gott und wahrer Mensch), ein Paradoxon. Zwischen den Zeiten, zwischen den Welten, voller Freude und voller Leid, lebt er herrschend und völlig erniedrigt, besiegt und Sieger zugleich, paradox eben. Aber der mittelalterliche wollte mehr als Spekulationen über die paradoxe Natur Jesu. Das rechte, so genannte Südportal in der Westfassade holt die Betrachter ganz aus der theologischen Spekulation heraus und bringt sie in die reale mittelalterliche Welt des Belohnungs- bzw. Bestrafungsdenkens hinein. Zwei Figurengruppen stellen über dem Portal das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen dar (Math.25, 1-13). Die Klugen lächeln überlegen. Sie haben es geschafft. Sie werden zur Hochzeit eingeladen. Eine der
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