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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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Calcium Ampullen, die sie auf Reisen immer dabei hatten. Sie brach die schmalen Enden der Ampulle ab und schüttete Sigi den Inhalt in den Mund. Er schreckte hoch und spuckte alles wieder aus. Die Flüssigkeit war sehr heiß geworden. Sie hatte in einer Tasche hinter dem Rücksitz im kleinen Kofferraum des VWs gelegen, die ganze Fahrt über der brennenden Sonne ausgesetzt und der Hitze des hinten liegenden Motors. Jedenfalls kam er wieder zu sich. Munda brachte es fertig, ihn wieder in den Wagen zu zerren, natürlich auf den Beifahrersitz. Die Rückfahrt erwies sich erstaunlich problemlos, was sicher auch damit zusammenhing, dass Sigi einfach nur bewegungslos auf dem Sitz hing. Schwieriger wurde der Transport Sigis in den vierten Stock ihrer Hochhauswohnung. Aber ein freundlicher Nachbar packte mit an. Schließlich legten sie Sigi auf das Bett im Schlafzimmer.
    Munda telefonierte mit dem Hausarzt, der nur zwei Blocks weiter seine Praxis hatte und – oh Wunder! – auch tatsächlich während der Sommerferien Dienst tat. zehn Minuten später war der noch relativ junge Arzt da und untersuchte Sigi gründlich.
    "Ich kann nichts Außergewöhnliches feststellen. Der Puls ist ein bisschen hoch, der Blutdruck auch. Aber ich meine, ein wenig Schlaf könnte Wunder wirken."
    Sigi schlief zwei Tage und zwei Nächte. Dann wachte er auf. Anscheinend war er wieder der Alte.
     
    Oktober 1978
    Nach diesen Vorfällen plätscherte Sigis und Mundas Leben träge dahin, ohne dass Erzählenswertes geschehen wäre. Sie führten das Leben eines jungen Ehepaares ohne Kinder, Munda recht ausgefüllt in ihrer Stellung als Sekretärin, Sigi in seiner Tätigkeit als Verkaufsstatistiker eher gelangweilt. Er versuchte der Monotonie seines Berufes immerhin einen gewissen Rhythmus abzugewinnen. Aus dem zugegeben flachen Bogen seines normalen Lebens versuchte er hin und wieder beachtliche Aufschwünge in ganz andere Bereiche. Sigi gelang es, laienhafte, aber durchaus interessante Bilder zu malen. Und für ihn persönlich waren noch nicht einmal die Ergebnisse wichtig oder ihre handwerkliche Qualität. Es war mehr dieses Gefühl, wenn er nach dem Malen in Ruhe die Bilder besah. Ihn erfasste dann das faszinierende Gefühl, ein anderer habe sie gemalt; nämlich der Sigi in ihm, den er nicht kannte. Ähnlich erging es ihm mit den Haikus, kleinen Gedichten in einem einfachen Versmaß, das er in einem Buch über Japan entdeckt hatte.
    Indem sich Sigi diese neuen Ausdrucksmöglichkeiten erschloss, veränderte sich im gleichen Maße auch seine Wahrnehmung, begann er die Dinge, die ihm begegneten, mit anderen Augen zu sehen. An diesem Tag im Herbst 1978 ordneten er wieder einmal auf seinem Schreibtisch Unterlage, Telefon, Terminal, seine Federhalter und Pinsel zu einem gewissen, konzentrischen Arrangement. Er begann sich zu entspannen.
    Haikus: Zweimal fünf, einmal sieben Silben. Der japanische Dichter dichtet nicht in dem Sinne, dass er Wörter nach ästhetischen Mustern zusammenstellt. Ein Haiku 'geschieht', wenn die Worte im Dichter um das Gesehene wie kleine, sehr hellsichtige Vögel kreisen. Wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um innere oder äußere Bilder dreht. Dieses Kreisen geschieht wie von selbst, eigentlich ohne Anstrengung. Gelassen ordnete Sigi, was die Vögel ihm berichteten, in drei Zeilen:
    " Zerlesenes Buch
    zerbissener Stift
    sind Zeugen erwählter Flucht."
    Das ging Sigi nur so aus der Feder, das brauchte er sich nicht zu ergrübeln. Das machte ihm Spaß. Und er fühlte sich erleichtert nach einem jeden solchen Gedicht. Die gefundenen Zeilen wirkten auf ihn wie ein Ablass. Mit jedem Gedicht wurden ihm Sünden erlassen. Am Abend des gleichen Tages, zu Hause im trauten Zwielicht des Wohnzimmers, eingebettet in ihr ganz individuelles Chaos, ließ Sigi zum zweiten Mal seiner Feder freien Lauf.
    Im Anblick Mundas schrieb er leichthin, nach dem er sie lange und intensiv angesehen hatte, wie sie da mit krummem Rücken, wie zusammen gezogen auf der Couch saß und in ihrem Buch las:
    "Die Schatten schließen
    mich immer mehr ein
    ängstigen Herz und Seele."
    Als Sigi überrascht auf diese Zeilen sah, wendete er sich Munda zu und fragte: "Möchtest du das mal lesen?"
    Mit gutmütigem Spott fragte sie zurück: "Bist du unter die Dichter gegangen?"
    Da, wo sie beide herkamen, gab es keine Dichter, da wurde nur gearbeitet. Für dichterische Wahrnehmungen war wenig Platz. Und wenn, musste es sich am Ende reimen. Gereimte Gedichte wurden immer

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