Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
erstarrt mit halb erhobenem Arm und traut sich keine weitere Bewegung mehr zu. Da dreht sich ihr Kopf wie auf einer Achse und wendet sich dem Menschen zu, der sich Emilio Santes nennt, zu.
Er bückt sich, klappt nachgerade in der Mitte zusammen und hebt eine violett-silbern schimmernde Gitarre auf, die einer der Musiker fallengelassen hat. Mit blödem Grinsen auf den Lippen entlockt er ihr ein paar entsetzliche Töne, die erschreckend klar durch den ansonsten totenstillen Raum hallen.
Dann hebt er die Gitarre über den Kopf und schmettert sie mit tödlicher, maschinenhafter Kraft auf die Bretter der Behelfsbühne. Der Hals bricht in der Mitte ab und hinterlässt einen beinahe armlangen spitzen Dorn, der aus dem Korpus der Gitarre wächst, umgeben von wirr zerrissenen Saiten. Er hebt diese tödliche Waffe auf und richtet den spitzen Dorn gegen die Gäste. In dem Augenblick, als er sich wieder den Erstarrten zuwendet, springt Sandra auf ihn zu. Mit welcher Absicht ist völlig unklar. Der zerbrochene Gitarrenhals dringt ihr in die Brust wie ein Dolch. Sandra sinkt zu Boden, und helles Blut färbt ihr weißes Hochzeitskleid. Was anschließend geschieht, nimmt Erna nur noch durch dicken Nebel wahr. Dass die Gäste sich aus ihrer verzauberten Erstarrung lösen, dass der Krankenwagen kommt, dass er umsonst kommt, dass Sandra tatsächlich tot ist, dass Ferm in seiner Untröstlichkeit versteinert, dass die Polizei kommt, dass Erna selbst verhört wird, dass etliche Gäste festgenommen werden, aber nicht wegen Sandras Tod, sondern wegen unerlaubten Rauschgiftbesitzes, dass der Maschinenmensch verschwunden ist, dass Ferm festgenommen wird, weil der Verdacht automatisch auf ihn fällt, er habe den Maschinenmenschen gespielt und er nicht eindeutig nachweisen kann, dass dies nicht der Fall war, schließlich sieht er ihm, vor allem durch seine Kleidung, zum Verwechseln ähnlich.
Das alles nimmt Erna wie unter Narkose auf, ohne Einzelheiten, eher wie ein durchgehendes schreckliches Geräusch. Erst als sie mit Gemal zusammen in ihrem Wagen sitzt, kommt sie wieder zu sich. Sie wendet sich Gemal zu, um etwas zu fragen oder zu sagen, aber ihr ersterben die Worte auf den Lippen.
Gemal sieht sie an. Sein Mund ist zu einem leeren Lächeln verzogen. Seine Augen glänzen wie glattes, schwarzes Murmelglas.
Erna sieht ihn an, reißt die Wagentür auf, springt hinaus und läuft.
Die Inkas vor der Westfassade des Münsters spielen unbeeindruckt von dem Geschehen El Condor Pasa und wiegen sich dazu in weichem Rhythmus. Die klugen und die törichten Jungfrauen sehen vom Südportal der Kathedrale zu, wie Erna auf sie zu rennt. Die Klugen lächeln Erna an und sagen mit ihrem Lächeln: Sei bereit, du weißt weder den Tag noch die Stunde!
Erna bleibt stehen, sieht zu ihnen hinauf und versteht zum ersten Mal: Sie hatten ihre eigene Geschichte mit dem Bräutigam. Erna steht vor dem Südportal wie versteinert. Jetzt war sie bereit.
Magier
2. September 1985
Der Herbst schmückte alle Gräser und Blätter, selbst die hässlichen, mit silbernen Perlen. Aber gegen den Himmel betrachtet färbte sich die Luft gelblich ein. Lebendiges silbriges Blitzen mischte sich mit dem öden Hauch unaufhaltsamer Vergänglichkeit. Ich sah aus dem Fenster meiner Waldhütte und spürte, es war ein Abend für Ungewöhnliches. Den ganzen Nachmittag schon hatte ich auf Fragen meiner Existenz herumgebrütet und war zu dem Schluss gekommen, dass die Tage meiner öffentlichen Auftritte als Show-Magier gezählt waren. Für einen Magier ist es besonders wichtig, Schluss zu machen, wenn er gerade besonders erfolgreich ist: Schluss machen auf dem Gipfel. Vielleicht ist es das für Fußballspieler, Boxer und Professoren auch. Bei Magiern bin ich mir ganz sicher. Der Erfolgsgipfel für mich war erreicht. Ich rede von genau diesem einfachen, allgemein bekannten Erfolg; nämlich dem, der einem die Bewunderung der Menschen (und deren Geld) zufließen lässt.
Die Vorrichtungen hinter mir knarrten leise in der Waldhütte. Sie suchten sich selbst ihre für das Experiment richtige Einstellung. Sie taten das automatisch, weil ich das Steuerelement so programmiert hatte. Schließlich war ich ein moderner Magier. Nur noch wenig musste von Hand getan werden, was einige Mitglieder meines Magierzirkels sehr bedauerten. Aber ich bin da auch heute noch pragmatisch: In bestimmten Bereichen sind Maschinen einfach präziser als die menschliche Hand.
Es ging auf 22.00 Uhr zu. Die Sonne war schon
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