Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
sicher, ob wir die richtige Überraschung für euch ausgewählt haben. Aber wir fanden sie interessant. Im Laufe des Abends werdet ihr überrascht."
Sandra sieht etwas unsicher auf Erna. Ferm aber lächelt souverän und meint: "Ihr werdet schon das Richtige getroffen haben. Und wenn nicht, wissen wir ja, dass ihr es gut gemeint habt, nicht wahr?"
Er sieht seine Frau an, Zustimmung heischend. Aber Sandra erwidert sein strahlendes Lächeln keineswegs.
"Ihr werdet uns doch nicht weh tun?" , fragt sie ernst.
Aber weder Gemal noch Erna können eine Antwort geben, denn in diesem Augenblick explodiert eine blauhaarige Punkerin zwischen ihnen, als sei sie schon die Überraschung. Mit verdrehten Augen fällt sie zwischen ihnen auf den Boden und streckt ihre Beine von sich, die von zerrissenen Netzstrümpfen eingehüllt werden wie von Spinnennetzen. Gerade lässt die Band ein rhythmisches Tongewirr anschwellen. Meeresrauschen, abfahrende Züge, Autogeräusche, Vogelgezwitscher haben die Musiker getrennt aufgenommen und über eines dieser Roland-Walzenprogramme in den Synthesizer eingegeben. Der zerhackt, wellt, rollt diese Töne auf und ab, so dass eine ganz eigenartige karussellähnliche Tonmodulation entsteht.
Erna schließt die Augen und fühlt sich sofort in einem Kettenkarussell, das sie über ganz Frankreich wirbelt, am Meeresstrand vorbei, über die wunderschönen Flüsse, und dann unaufhaltsam über die Großstädte hinwegschleudert. Schockartig durchbricht die Band diese 'natürlichen' Klänge durch instrumentale Weisen, indem eine Gitarre dazwischenfetzt, eine Stimme Donnerklänge entwickelt. Aber auch diese 'künstlichen' Klänge reißen mit, heben ab. Nichts erdet sie.
Als Erna die Augen wieder öffnet, steht der Maschinenmensch da. Unbemerkt hat er in diesem allgemeinen Getümmel den Raum betreten. Er sieht sich nicht um, stellt sein kleines flaches Podest einfach auf, sich darauf und... erstarrt: Ein Bräutigam im schwarzen Anzug.
Erna wird ganz kalt ums Herz. Hier wird es ihr Unheimliche noch deutlicher als auf dem Kirchplatz. Die Menschen um ihn erstarren ebenfalls.
Der Maschinenmensch zieht seine Maschinenschau ab, und sie greift wie eine ansteckende Krankheit auf die Menschen um ihn herum über. Ein winziger, noch unbekannter Virus scheint sich über die Luft in Windeseile zu verbreiten, wird eingeatmet und beginnt im Inneren der Hochzeitsgäste sein zerstörerisches Werk.
Erna erblickt den schon erstarrten Gemal in der Nähe der behelfsmäßigen Bühne. Gerade legen die Musiker wie in Zeitlupe ihre Instrumente aus den Händen. Ein Saxophon fällt polternd auf die Bretter.
Erna sieht wie die frisch gebackene Ehefrau Sandra langsam auf den Maschinenmenschen zu gleitet. Sie bewegt sich lauernd auf ihn zu, wie sich eine Katze ihrer Beute nähern würde, voller verhaltener, gespannter Energie. Der Maschinenmensch vollzieht weiterhin unbeeindruckt seine obszönen eckigen Bewegungen. Eigentlich wirken seine Bewegungen erst durch Sandras Geschmeidigkeit richtig obszön.
Sandra ist jetzt nur noch zwei Schritte von ihm entfernt.
Der Geräuschcomputer erstirbt. Die Stille breitet sich aus, als würde der Raum mit Kunstharz ausgegossen. Zwei Schritte noch trennen das Leben vom Tod.
Er sieht sie nicht an, übersieht sie. Er ist ja eine Maschine.
Sandra gleitet näher, immer näher, sie wirbt, unverkennbar, sie lockt, sie wird wütend. Wie kann sich ein Mensch nur dermaßen tot stellen?
Er nimmt sie nicht wahr. Ihre Augen blitzen. Seine Augen glänzen wie glattes, schwarzes Murmelglas. Sie spiegelt sich darin: Zwei Zwerginnen im Synchrontanz.
Immer mehr Hochzeitsgäste nehmen die eckigen Bewegungen des Maschinenmenschen an. Kein einziger nimmt sich Sandras Geschmeidigkeit als Vorbild. Unter denen, die noch in der Lage sind zu beobachten, breitet sich eine ungeheure Spannung aus. Noch ist nicht ganz klar, was hier geschieht. Theoretisch ist das alles ein lustiges kleines Gesellschaftsspiel.
Aber mindestens Erna weiß, dass hier ein Spiel auf Leben und Tod abläuft. Sie ist sich nur nicht sicher, ob sie das alles nur träumt oder ob sie es wirklich erlebt. Die Unsicherheit zerreißt sie beinahe. Sie hebt die Hand, um Gemal ein Zeichen zu geben, um sich mit dem einzigen ihr auf dieser Gesellschaft vertrauten Menschen in dieser verwunschenen Menschenmenge zu verständigen. Da spürt sie entsetzt, dass sich ihr Arm in dieser elend eckigen Bewegung hebt, wie sie es von dem Maschinenmenschen her kennt. Erna
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