Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
zu beschleunigen, in die Hände sehr zweifelhafter Medien, sehr dummer und sehr gieriger Medien zudem, und sie hetzten ihn tatsächlich trotz seiner großen Schaffenskraft und seines Genies zu Tode. Als er vereinsamt starb, war von ihm nicht mehr als nur noch eine nervös zitternde Hülle übrig.
Das würde mir nicht passieren, da war ich mir sicher. Ich ging gemessenen Schrittes die paar Meter bis zum Tisch und ließ mich auf dem Stuhl vor seinem Kopfende nieder. Die Kerze flackerte von dem Lufthauch, den ich durch meine Bewegungen ausgelöst hatte. Ich konnte jetzt mit jeweils leichter Kopfdrehung gut in beide Spiegel hineinsehen. Die Einstellung der Spiegel näherte sich mit schrillem Pfeifen ihrer Vollendung. Und da wurden sie auch schon sichtbar: In jedem Spiegel erschien eine schier endlose Kette von Kerzen, die sich im Unendlichen verlor.
Draußen im Wald stieß ein unbekannter Vogel einen hässlichen krächzenden Laut aus. Ich konzentrierte mich jetzt auf den linken Spiegel und versuchte die letzte Kerze der langen Reihe zu erfassen. Stecknadelkopfgroß, allenfalls, stach sie aus der Dunkelheit, und tatsächlich, sie war umgeben von diesem seltsam grünen Licht. Ich hatte das jetzt schon oft gesehen. Aber jedes Mal erlebte ich den gleichen kalten Schrecken, griff mir Furcht mit klammen Fingern ans Herz. Da war sie, die Grenze, deutlich zu erkennen. Sie zu überschreiten, würde es Leben bedeuten oder Tod? Weisheit oder Wahnsinn?
Ich begann erst innerlich, dann aber durchaus hörbar einen der Sprüche zu murmeln, die die Menschen früherer Tage als Zaubersprüche bezeichneten. Aus meiner heutigen Sicht handelt es sich mehr um Suggestionen, die eher meine inneren Kräfte mobilisierten, als Äußeres bewegten.
"Alles in einem, eines in allem. Nichts geht verloren, nichts ist umsonst."
Das Grün breitete sich aus, wurde heller. Es begann Gestalten zu formen, undeutlich und formlos.
"Nur die Wahrheit macht frei, Liebe braucht es, sie zu ertragen."
Ich erkannte Louisa in der Tiefe des Spiegels, von grünlichem Licht umgeben. Ich war verblüfft. Aber da war kein Zweifel. Das Haar, die hellen Augen, die Bewegungen. Sie tanzte. Und sie tanzte sehr frei. Sie tanzte so, wie ich sie noch niemals hatte tanzen sehen. Es war schön anzusehen, und doch ergriff eine Beklemmung meine Brust. Ich erkannte die Gestalt im Hintergrund. Ohne Frage handelte es sich um einen Mann. Tanzte sie für ihn? Die beiden berührten sich nicht. Und doch war da ein intimes Band zwischen ihnen, dessen Charakter ich nur zu gerne durchschaut hätte. Oh, Schwester Magie! Du hast mich verraten. Du hast mir auf eine Frage geantwortet, die ich gar nicht gestellt habe.
Die Gestalten im Spiegel begannen wieder undeutlicher zu werden, schienen zu verschmelzen. Mein Herz wurde kalt wie Eis. Nur noch grüner Nebel blieb zurück. Das war nicht die Erkenntnis, die ich suchte. Oder sollte die Magie wirklich eine so eifersüchtige Schwester sein, dass sie mir die Liebe zu Louisa verderben wollte? Magie, du bist dabei, mich zu einem sehr einsamen, sehr rachsüchtigen Menschen zu machen. Oder war das alles nur ein Trug? War das, was ich da gesehen habe, nur ein Abbild meiner Ängste, die sich im stillen Grauen des nächsten Tages mit den Morgennebeln in Nichts auflösen würden?
Ich brauchte Gewissheit. Mit fliegenden Händen schaltete ich den Steuercomputer aus, löschte die Kerze, stolperte durch die Dunkelheit zur Tür, stürzte aus dem Haus. Ich flog nachgerade durch die Schwärze der Nacht, verfluchte meine immer wiederkehrenden Anfälle, mich dem einfachen Leben hinzugeben. Gerade heute war ich mit dem Fahrrad gekommen. Aber vielleicht konnte die körperliche Anstrengung meinen wirren Geist wieder klären. Atemlos bog ich um die Ecke zu unserem Wohnhaus und prallte um ein Haar gegen einen fremden Wagen, der in unserer Einfahrt parkte. Unser Haus lag still und friedlich in völliger Dunkelheit da. Auch innen verblieb das Haus still und friedlich, wie ich kurz darauf feststellen durfte. Ich hastete die Stiege hinauf und fand Louisa schlafend in ihrem Bett, allein. Indem ich noch konsterniert neben ihr stand, hörte ich draußen in unserer Einfahrt den Wagen starten, offenbar Besuch für einen Nachbarn. Ich fühlte mich erleichtert, aber auch irgendwie enttäuscht. Louisa drehte sich auf die Seite und schnarchte leise. Dann sagt sie mit süßer Stimme, aber nur schwer zu verstehen: "Ach, Günter...!"
Ich musste mich setzen, denn Marvin ist nicht mein
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